ABS: Warum die Sicherheitstechnik bei E-Bikes kaum genutzt wird
ABS an Pedelecs kann Stürze und Überschläge verringern. Seit fast zehn Jahren gibt es Lösungen, doch das Interesse ist mau.
Das ABS von Bosch soll Unfälle durch falsches Bremsen verhindern helfen.
(Bild: Bosch eBike Systems)
Im Juli 2017 hat Bosch auf der hauseigenen Teststrecke in Boxberg das weltweit erste serienreife Antiblockiersystem ABS für Pedelecs präsentiert. Ich durfte das System damals testen – und schrieb anschließend in meinem Testbericht zusammenfassend: "Hoffentlich wird ABS auch bald am E-Bike Pflicht, denn es macht radeln deutlich sicherer." Doch das war pures Wunschdenken. Zwischenzeitlich verunglücken immer mehr Menschen mit ihren elektrischen Fahrrädern tödlich, und nur ganz wenige dieser Fahrzeuge sind mit einem digitalen Bremssystem ausgerüstet. Was eigentlich bremst ABS am Pedelec aus?
Leben E-Bike-Fahrer gefährlich?
Ja, und zwar sehr im Vergleich zu anderen Verkehrsteilnehmern. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts war im vergangenen Jahr jede sechste (16 Prozent) im Straßenverkehr verunglückte Person mit dem Fahrrad unterwegs. 441 Radelnde starben auf Deutschlands Straßen, davon fuhren 192 ein Fahrrad mit elektrischem Antrieb. Die Zahl der getöteten Radfahrer ist innerhalb der vergangenen zehn Jahre um 11,4 Prozent gestiegen. Dieser Zuwachs sei vorwiegend auf die steigende Zahl getöteter E-Bike-Fahrenden zurückzuführen, so die Statistik-Behörde weiter. Im Gegensatz dazu ging die Anzahl der Verkehrstoten im genannten Vergleichszeitraum um 18,3 Prozent zurück. Während also die Gefahr für Verkehrsteilnehmer insgesamt spürbar sinkt, tödlich auf der Straße zu verunglücken, steigt sie für Pedelecfahrende stark an.
Die Erkenntnisse des Statistischen Bundesamts über die Unfallzahlen von Radfahrenden verfeinert die Unfallforschung der Versicherer UDV, indem sie in einem Forschungsprojekt die Ursachen der Unfälle untersuchte und dabei feststellte: "Jeder dritte tödlich verunglückte Radfahrende verunfallt inzwischen ganz allein, also ohne Unfallgegner", sagt UDV-Leiterin Kirstin Zeidler. Dieser erhebliche Anteil habe in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Für das Alleinunfallphänomen gibt es zwei große Gründe: eine unfallträchtige Radinfrastruktur und die Fahrweise. Bei der Fahrweise sind Geschwindigkeit und Bremsen die Hauptursachen für Stürze. Hier kommt nun ABS ins Spiel. "Als eine Maßnahme neben anderen aus dem Forschungsprojekt empfehlen wir ABS, insbesondere fürs Pedelec", sagt Zeidler. Das System soll Unfälle reduzieren.
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Kann ABS am E-Bike Leben retten?
Eindeutiges Ja! Bis zu 29 Prozent aller Pedelec-Unfälle könnten verhindert oder abgeschwächt werden, wenn alle E-Bikes mit ABS ausgestattet wären. Diese Angabe beruht auf Untersuchungen der Bosch-Unfallforschung. Denn: Eine häufige Unfallursache ist danach unsicheres oder zögerliches Bremsen in anspruchsvollen Situationen, etwa bei nasser Fahrbahn, auf Schotter oder zu starkem Bremsen bei plötzlich auftretenden Hindernissen.
In beiden Fällen hilft ABS, weil die volle Bremsleistung genutzt werden kann, ohne dass das Vorderrad blockiert, was nahezu unweigerlich zum Sturz führt. Der ADAC kommt in einem ABS-Test an Pedelecs zu der Erkenntnis, dass die Sicherheit beim Bremsen steigt.
Wie funktioniert ABS am Pedelec?
In den vergangenen Jahren wurden Felgenbremsen zunehmend durch hydraulische Scheibenbremsen ersetzt. Die modernen Bremsanlagen packen spürbar kräftiger zu.
Wenn hydraulische Bremsen mit einem ABS-System kombiniert werden, messen Sensoren an den Bremsscheiben beider Räder deren Drehzahlen. Sollte das Vorderrad bei zu starkem Bremsen blockieren, greift die Steuereinheit blitzschnell ein und senkt den Druck an der Hydraulikbremse des Vorderrads so lange ab, bis es wieder rollt. Daraufhin wird wieder Bremsdruck aufgebaut. Dieser Vorgang kann sich vielfach pro Sekunde wiederholen, sodass E-Bike-Fahrerinnen und -fahrer auch bei ganz durchgezogenem Bremshebel sicher zum Stehen kommen.
ABS verhindert ein blockierendes Vorderrad. Am Hinterrad verhindert das System dessen Abheben und dadurch einen Ăśberschlag des Fahrzeugs. Somit erfĂĽllt diese Technologie gleich zwei wesentliche Sicherheitsfunktionen.
Ein ABS-System besteht aus Steuergerät, Radgeschwindigkeits-, Beschleunigungs- und Lage-Sensoren sowie speziellen Bremskomponenten. Die Elektronik braucht Strom und kann daher nicht an einem normalen Fahrrad verbaut werden. Das Nachrüsten an einem E-Bike ist nicht möglich, weil das System tief in Antrieb, Sensorik und Bremssystem integriert ist und bereits bei der Konzeption des Bikes berücksichtigt werden muss.
Warum sind nur wenige E-Bikes mit ABS ausgestattet?
Bosch ist Pionier beim ABS fürs E-Bike, 2018 war die erste Version verfügbar. Diese wurde nach Angaben des Herstellers entscheidend weiterentwickelt. "Es ist heute 77 Prozent kleiner, 55 Prozent leichter und in zwei Versionen erhältlich", sagt Tamara Winograd, Leiterin Marketing und Kommunikation bei eBike Systems, einer Geschäftseinheit von Bosch. Die eine Variante ist für den Alltag, die andere für den Sport. Außerdem sind die ABS-Modi auf den jeweiligen E-Bike-Typ abgestimmt, etwa für Touring,- Trail- oder Lasten-Rad. Jede neue Technologie brauche ihre Anlaufphase, so Winograd.
Zwar habe sich die Technologie seit ihrer Markteinführung deutlich verbessert, und mehrere Hersteller böten inzwischen entsprechende Systeme an. Doch nur ein kleiner Teil der aktuell verfügbaren E-Bikes – vor allem im oberen Preissegment – sei damit ausgestattet, teilt der Zweirad-Industrie-Verband ZIV auf Nachfrage mit. Neben Bosch baut unter anderem das italienische Unternehmen Blubrake ABS für Pedelecs.
"Moderne Scheibenbremsen sind schon sehr gut und vermitteln bereits ein hohes Sicherheitsgefühl", sagt René Filippek, Technikexperte vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club ADFC. Vielen Kunden reiche das. "Für sie erschließt sich daher nicht der Mehrwert eines teureren ABS-Systems." ABS macht die ohnehin schon teuren Elektrofahrräder noch teurer. Zwischen 300 und 500 Euro steigt dadurch der Preis.
Der deutsche Fahrradhersteller Cube stattet seine E-Bikes ausschließlich mit ABS von Bosch aus. "Der Anteil ist von 2 Prozent im Vorjahr auf 10 Prozent in der aktuellen Saison gestiegen", sagt Marie Korzen aus dem Marketing von Cube. Der Zuwachs liege an der inzwischen deutlich verbesserten Verfügbarkeit und Vielfalt kompatibler Federgabeln und Bremssysteme, sodass ABS nicht mehr nur den High-End-Produkten vorbehalten sei. "Wir glauben fest daran, dass der Anteil in Zukunft noch deutlich größer werden wird."
Sollte ABS am E-Bike Pflicht sein?
Bei neuen Autos ist ABS seit 2004 in Europa Pflicht. Für Motorräder besteht sie seit 2017, aber längst nicht für alle, sondern nur für Fahrzeuge mit mehr als 125 cm³ Hubraum oder über 11 kW elektrischer Dauerleistung bei Elektromotorrädern. Für E-Bikes besteht keine Pflicht.
Dabei wäre sie auch für kleine Motorräder und E-Bikes ratsam, weil ABS für einspurige Fahrzeuge aufgrund unterschiedlicher Fahrdynamik im Vergleich zu zweispurigen Fahrzeugen eine besondere Relevanz hat: Autos haben eine hohe Fahrstabilität aufgrund ihrer vier Räder und daher auch ein anderes Bremsverhalten als Motor- oder Fahrräder. Diese kippen ohne Stabilisierung zur Seite. Und während Autos auch mit blockierenden Vorderrädern grundsätzlich richtungs- und fahrstabil bleiben, führt eine Blockade des Vorderrads beim Zweirad fast immer zum Sturz.
"Unbestritten ist, dass ABS das Fahren sicherer machen kann, insbesondere auf rutschigem Untergrund oder auch fĂĽr ungeĂĽbt Radelnde", sagt Pablo Ziller, Sprecher des Zweirad-Industrie-Verbands. Eine gesetzliche Pflicht zur Ausstattung von E-Bikes mit ABS sei aber derzeit nicht erforderlich. Die Entscheidung fĂĽr oder dagegen sollte den Herstellern und Konsumenten ĂĽberlassen bleiben.
Zeidler von der Unfallforschung der Versicherer argumentiert ähnlich: "Empfehlenswert ja, aber Pflicht nein."
Schade eigentlich, denn eine solche Vorschrift könnte schwere Verletzungen durch schlimme Stürze reduzieren und sogar Leben retten.
(afl)