Mit Neutrinos auf der Jagd nach Superschurken
Französische Wissenschaftler haben vorgeschlagen, im Geheimen betriebene Atomreaktoren mit Hilfe von riesigen Antineutrino-Detektoren zu orten. Die Idee ist mehr als reine Phantasterei.
Französische Wissenschaftler haben vorgeschlagen, im Geheimen betriebene Atomreaktoren mit Hilfe von riesigen Antineutrino-Detektoren zu orten. Die Idee ist mehr als reine Phantasterei.
Die Angst vor einer weiteren Verbreitung von Atomwaffen beflügelt offenbar die Phantasie: Thierry Lasserre und Kollegen von der französischen Kommission für Atom- und Alternative Energien (Commissariat à l'énergie atomique et aux énergies alternatives, CEA) haben vorgeschlagen, im Geheimen betriebene Atomreaktoren mit Hilfe von zu riesigen Antineutrino-Detektoren umgebauten Supertankern zu orten.
Bislang setzt die Internationale Atomenergiebehörde IAEA bei der Kontrolle zur Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages noch vor allem auf klassische Maßnahmen wie etwa eine minutiöse Buchführung über spaltbares Material, die Kontrolle der Pläne von atomaren Anlagen, regelmäßige Inspektionen und in einigen Fällen auch Videoüberwachung. Doch seitdem klar ist, dass auch so genannte "Schurkenstaaten" über Nukleartechnik verfügen, befürchten die Atomkontrolleure, dass auch unter den Augen ihrer Kontrolleure zivile Reaktoren heimlich zum "erbrüten" von atomwaffentauglichem Material verwendet werden könnten. So werden etwa Forschungsreaktoren mit einer thermischen Leistung oberhalb von 25 Megawatt routinemäßig einmal im Jahr inspiziert, weil man in solchen Reaktoren genügend waffenfähiges Material produzieren könnte – acht Kilogramm Plutonium, acht Kilogramm Uran 233 oder 25 Kilogramm hoch angereichertes Uran (HEU, Uran 238 mit hohem Uran-235-Anteil), um eine Bombe zu bauen.
Doch diese – zumeist angekündigten – Kontrollen sagen nichts über nichts über den Betrieb in der restlichen Zeit aus – und heimlich betriebene Reaktoren kann man auf diese Weise auch nicht finden. Seit 2003 diskutieren Wissenschaftler deshalb unter anderem darüber, ob man für diese Zwecke Neutrino-Detektoren nutzen könnte.
Denn die Antineutrinos entstehen in großer Zahl beim radioaktiven Beta-Zerfall, wie er beispielsweise in Kernreaktoren stattfindet – rund 1021 Neutrinos produziert ein Reaktor pro Sekunde und Gigawatt thermischer Leistung: Beim Betazerfall zerfällt ein Neutron in ein Proton und ein frei werdendes Elektron. Eigentlich müsste dieses Elektron einen konstanten Energiewert haben, aber die frei werdenden Elektronen zeigen eine ganz klare Energieverteilung. Der Physiker Wolfgang Pauli postulierte deshalb bereits 1930 ein bis dahin unbeobachtetes Elementarteilchen, um die Impulserhaltung und die Energieerhaltung sicherzustellen. Enrico Fermi nannte dieses Teilchen zuerst 1933 Neutrino (kleines Neutron, Neutrönchen).
Erst 23 Jahre später wurden Neutrinos zum ersten Mal experimentell nachgewiesen, denn die Teilchen sind äußerst schwer zu fassen: Anders als bei den anderen bekannten Elementarteilchen interagieren Neutrinos mit Materie nur über die so genannte schwache Wechselwirkung. Ein Strom von Neutrinos geht daher auch durch dicke Beton- oder Stahlwände fast ungehindert durch.
1959 kamen die US-Physiker Frederick Reines und Clyde L. Cowan, Jr. jedoch auf die Idee, die Teilchen mit den Protonen in Wasser reagieren zu lassen, das sie mit Cadmiumchlorid versetzt hatten. Wenn ein Neutrino auf ein Proton stößt, entsteht ein freies Neutron (n) und ein Positron. Das Positron – ein Anti-Elektron mit positiver Ladung – wird beim Zusammentreffen mit einem Elektronen unter Aussendung von zwei Photonen vernichtet. Das freie Neutron dagegen wird im Wasser abgebremst und nach etwa einer Millisekunde von einem Cadmiumkern eingefangen. Auch bei diesem Prozess werden wieder zwei Photonen frei, die man mit einem empfindlichen Detektor registrieren kann. Um ein Neutrino nachzuweisen, muss man also "nur" auf zwei Detektor-Signale mit einem zeitlichen Abstand von etwa einer Millisekunde achten.
Rynes und Cowan hatten ihren Detektor allerdings unmittelbar neben einem Reaktor platziert. Um den illegalen Betrieb eines Kernreaktor auch aus einigen hundert Kilometer Entfernung noch nachweisen zu können, muss man bedeutend schwerere Geschütze auffahren. In einem im Preprint-Archiv arxive.org veröffentlichten Aufsatz haben Lasserre und seine Kollegen durchgerechnet, wie so etwas aussehen müsste. Ihr Vorschlag: Man kleide die Wände eines Supertankers mit Detektoren aus und fülle das Schiff mit rund 138.000 Tonnen Lineares Alkylbenzol (LAB). Damit es während der rund sechs Monate Messzeit nicht entdeckt wird, empfehlen die Wissenschaftler, das Schiff zwischendurch zu versenken.
Die Idee ist keineswegs so abenteuerlich, wie sie auf den ersten Blick aussieht: Die IAEO untersucht seit 2005 in einer speziellen Arbeitsgruppe neue Technologien zur Aufdeckung klandestiner nuklearer Aktivitäten. Diskutiert wird dort unter anderem der Gebrauch von Lidar oder laserinduzierter Spektroskopie, aber auch der Einsatz eines Antineutrino-Detektors in unmittelbarer Nähe des Reaktorkerns. Ein solcher Detektor, der gewissermaßen im Keller des AKW steht, könnte wartungsfrei kontinuierlich Daten aufzeichnen und so eine Art Logbuch über die Zusammensetzung der Spaltstoffe im Reaktorkern führen. Auch diese Idee hatten Lasserre und seine Kollegen vorgeschlagen – mittlerweile hat sie es immerhin schon bis zur ersthaften Evaluation geschafft. (wst)