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Was war. Was wird.

Schmutz und Schund, Schund und Schmutz. Was zum europäischen literarischen Kanon zu zählen ist, das kann ohne weiteres der Sendezeitbeschränkung im Internet unterliegen, befürchtet Hal Faber. Wirklichen Schund aber findet man auch so genug.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Ach, ein bisschen Sambaria hilft, beim elenden Weihnachtsgetümmel in der Innenstadt die Laune zu heben. Und weckt die Hoffnung, dass tatsächlich irgendwann mal wieder Sommer wird. Derweil funkelt er immer noch prächtig, der Schnee auf der norddeutschen Tiefebene. Sauber sieht sie aus. Selbst der Gestank aus den Mastställen ist in der hyperboreischen Kälte erträglich geworden – oder ist dies eine Illusion wie die Rede von der sauberen Landwirtschaft und von der sauberen Landwirtschaftsministerin der Tiefebene, die nach einem Petaleak als Lobbyistin der Billigfleischindustrie gehen musste? Still schaufeln die Wutbürger an ihren Schneehaufen, nur selten ist ein Schneemerkel zu sehen, als Erinnerung an den Krieg in Afghanistan. It's a war, right. Dort werden unsere Handelswege durch den Hindukusch verteidigt, von dort kommt angeblich die Losung Klappe halten, Gehirn ausschalten. Keine Fragen stellen, warum nach acht Jahren die Mehrheit der Deutschen diesen Unsinn satt hat. Klappe halten und einfach mal die US-Depeschen über Afghanistan lesen, die Wikileaks veröffentlicht hat. Im Gegensatz zu dem, was die uniformierten Vögel zwitschern, sind die Amerikaner selbst abseits aller Leaks erstaunlich offen über die Situation, wenn sie mit Bloggern sprechen.

*** Wutbürger statt Hamburger, Mark Zuckerberg statt Julian Assange, der Deutschland-Import Sandra Bullock statt Kate Middleton: Das Jahr geht zu Ende, die Riten setzen ein, Updates für Tubewürger inklusive. Über Zuckerberg und Assange haben Heise-Forumsleser alles gesagt, bleibt nur eine Ehrung nachzutragen, die das dank Wikileaks so schwer gebeutelte US-Außenministerium der Firma des Jahres um den Hals hängt. Dass Hilary Clinton ausgerechnet Cisco auszeichnet und davon schwärmt, wie diese Firma demokratische Werte in der Welt verbreitet, ist ein kleiner Lacher wert, in Anbetracht des kleinen Leaks zum großen goldenen Schild. Der nächste Preis geht bestimmt an BP für die tröpfchenweise Ausbreitung öliger Werte oder an Blackwater für die Vermittlung ethischer Standards im Irak unter besonderer Berücksichtigung des Schnellfeuers.

*** Und bei uns? Wie wäre es mit dem European Newspaper Award, der für diese Infografik (PDF-Datei) aus dem Ruhrgebiet an den Bauer-Konzern vergeben wurde, mit einem Blick auf ein unscheinbares Kästchen links unten? Die Volten der blondgelockten Politik beim Streit um die Hartz IV-Reform müssten eigentlich die zu Wutbürgern machen, für die die Reform durch das Verfassungsgericht verordnet war. 2,3 Millionen Kinder auf die Barrikaden, denn was abseits der Politik mit Gutscheinen und Bildungschips gebastelt wird, wird von der Realität locker überholt. So hat am diesem Wochenende der Zahlungslauf der Arbeitsagentur für das neue Jahr begonnen, in dem sich zunächst nichts ändern wird für die Förderbürger und die Forderbürgerkinder und die organisierte Nachhilfe. Das Schulessen ist vorerst gestrichen. Sind so kleine Hände, sollen sie halt popeln.

*** Dann war da noch ein neuer Jugendmedienschutz, der zum neuen Jahr greifen sollte. Nur ein sauberes Deutschland ist bekanntlich ein gutes Deutschland. Nur 4chanfrei geförderte deutsche Kinder haben eine Chance, ihre deutsche Sexualität unbelastet zu entdecken. Erinnert sei an das Schmutz- und Schundgesetz, das vor genau 84 Jahren am 18.12.1926 eingeführt wurde, die Schundliteratur einzudämmen. Ja, Schundliteratur, all die Abenteuer- und Groschenhefte, die lange vor den MMORPG dann nachgespielt wurden. Im Jahre 1912 klingt das nicht sehr viel anders als beim Gerede über die Ego-Shooter anno 2010: "Neuerdings hat sich wieder mehrfach gezeigt, daß durch die Abenteurer-, Gauner- und Schmutzgeschichten, wie sie namentlich auch in einzelnen illustrierten Zeitschriften verbreitet werden, die Phantasie verdorben und das sittliche Empfinden und Wollen derart verwirrt worden ist, daß sich die jugendlichen Leser zu schlechten und selbst gerichtlich strafbaren Handlungen haben hinreißen lassen." Ab 1926 wurde der Schund von zwei Schundprüfkammer gesichtet und weiter gelesen. Wie Tucholsky richtig erkannte, entstand eine Spielwiese der Verstopften und Verdrückten, "ein einziger Schrei der Denunziation".

*** Das Schund-Gesetz galt bis 1935, dann wurde es aufgehoben: "Mit der Errichtung der so genannten Reichsschrifttumskammer in der Zeit des Nationalsozialismus verfügten die Machthaber über eine wirksame Institution zur Kontrolle des in Deutschland veröffentlichten Schrifttums. Für eine besondere Indizierung jugendgefährdender Werke bestand keine Notwendigkeit mehr." Der Umbau vom Internet zum Volksnetz für Deutsche mit Webtumskammer für die Schundzensur muss nun im "Diskurs mit der Netzgemeinde" neu ausgehandelt werden. Ich würde schon das Wort "Netzgemeinde" mit einer Jugendsperre nicht unter 80 Jahren belegen wollen. Wer da nicht mitmacht, wer Feindsender hört, weil er nicht die Klappe halten will, sondern Informationen braucht, dem wird im Namen eines albernen Jugendschutzes gedroht: "Basierend auf den derzeitigen rechtlichen Grundlagen werden die Jugendschutzbehörden Sperrverfügungen erlassen", tönt Kurt Beck. Beck und Bild haben mehr gemein als Namen mit vier Buchstaben. Wenn dann noch aus der geplanten regulierten Selbsregulierung des Jugendmedienschutzstaatsvertrag eine "koregulierte Selbstregulierung" wird, bleibt die Erkenntniss, dass eine Pfälzer Leberwurst lecker und grau ist, während ein Pfälzer Ministerpräsident als beleidigte Leberwurst beides nicht ist. Eine innere Sperrverfügung hat hier etwas gelöscht.

*** Ach ja, Schmutz und Schund raus aus dem Netz, ja, alles nur zu unserem Besten, niemand hat die Absicht, eine Mauer ... äh, Zensur zu üben. Meines Wissens gehört Jean Genet allerdings in einigen Schulen zu der Literatur, die auch im Unterricht behandelt wird. Im Internet allerdings dürfte er eigentlich für die meisten Schüler nicht nachzulesen sein, nimmt man auch den bereits gültigen Jugendmedienschutzstaatsvertrag ernst, der nach gescheiterter Novellierung gültig bleibt. Die Schriften und Filme Jean Genets, der heute vor 100 Jahren geboren wurde, nur für diejenigen aus der ominösen Netzgemeinde, die mindestens und nachgewiesenermaßen 18 Jahre alt sind. Oder aber die Schriften und Filme Jean Genets, den Sartre als "Saint Genet, Komödiant und Märtyrer" charekterisierte, erst ab 22 Uhr online. Kein chant d'amour für Jugendliche in dieser Republik. Die müssen alle um 21 Uhr ins Bett. Alleine.

*** Auf ein Neues! Wenn schundliterarisch gesprochen die Regulatoren von Arkansas ähem Steinfeldbach wieder reiten und den "Diskurs mit der Netzgemeinde" von ihren Rössern bestreiten, wird ein neuer Bekannter dabeisein. Unser toller Personalausweis mit seiner datensparsamen Altersverifikation wird brave, familienbewusst surfende Kinder schon davon abhalten, Schund und Sexseiten zu besuchen. Notfalls bilden Fremdsprachenkenntnisse die nötige Barriere vor Schundgeschichten über Sex im Halbschlaf, nach dem Brötchenholen beim Wutbäcker. Wenn dann Zappa & Beefheart The Torture Never Stops spielen, kann man sich beruhigt zurücklegen. Oder traurig. Der Käptn hat die Brücke verlassen, seine Odyssee geht anderswo weiter. Von dem Bisschen, was in meinem Land verfügbar ist: Electricity. Nein, es geht nicht um Laptop-abhängige Infojunkies, die eine Dose für ihren Schuss suchen: "High voltage man kisses night to bring the light to those who need to hide their shadow deed ..."

Was wird.

Oje. Das Lametta-WWWW naht. Für alle Menschen, die nicht diverse höhere Wesen verehren, bricht eine schwere Zeit an. Der Rest übt sich in Last-Minute-Einkäufen. Besonders gute Schnäppchen heißen dann "göttliche Fügung". Eine solche ist der Weihnachtsbaum, eigentlich der Baum des Paradieses, an dem Paradeiser hängen sollten. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser an diese kleine Petitesse vom Sparen in der Informationskultur. Leider ist das optimistisch angegangene Insolvenzverfahren daneben gegangen. Am kommenden Dienstag geht es beim Amtsgericht Frankfurt in die letzte Runde. Die Hinterlassenschaft des einmaligen Informationssystems, in das die Bildungsrepublik Deutschland 40 Millionen Euro gesteckt hat, wird versteigert. Es gibt ein Gebot der Mitarbeitergruppe, die eine Genossenschaft gebildet hat und das System weiterführen will. Für 1 Euro. Dagegen steht ein Gebot der VUB Printmedia, die ausschließlich an der Datenbank für den internen Gebrauch interessiert ist: 10.000 Euro. Die Moritat von der Geschichte ist im Zirkus Zuckerberg zu lesen. Wie war das noch mit den "fundierten Informationen für alle Lernenden"? Auf dem rund 300.000 Euro teuren IT-Gipfel in Dresden wurde der Informationsstandort Deutschland bejubelt, in Frankfurt wird er abgewürgt. In leichter Abwandlung von Harry Rowohlt schließe ich mit einem Feiertagsgedicht als besonders hübsches Last Minute-Angebot.

Lieber Gott,
Du bist der Boss, Amen.
Deine deutschen Esel.

(jk)