Laufzeit 80 Jahre?

Ein EU-Forschungsprojekt soll untersuchen, ob deutsche Kernkraftwerke auch bis 80 Jahre lang laufen könnten.

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Ein EU-Forschungsprojekt soll untersuchen, ob deutsche Kernkraftwerke auch bis 80 Jahre lang laufen könnten.

Die politische Auseinandersetzung um die Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke ist entschieden – doch der wissenschaftliche Streit um die Sicherheit der alten Reaktoren könnte schon bald neue Nahrung bekommen. Denn von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hat am Forschungszentrum Rossendorf das Forschungsprojekt "Longlife" begonnen, in dem die Langzeitsicherheit von Atomkraftwerken näher unter die Lupe genommen wird. In dem von der Europäischen Union mit rund 2,7 Millionen Euro geförderten Projekt geht es vor allem um "bestrahlungsinduzierte Alterungsprozesse von Reaktordruckbehälterstählen im Langzeitbetrieb".

"Das hat mit der aktuellen Debatte um die Laufzeitverlängerung nichts zu tun", wehrt Eberhard Altstadt, Projektkoordinator am Forschungszentrum Rossendorf, gleich ab. "In unserem Projekt werden die Auswirkungen von 60 bis 80 Jahren Laufzeit untersucht". Doch das Ziel des Projektes, eine "Leitlinie für die Überwachung der Versprödung des Reaktordruckbehälters im Langzeitbetrieb", könnte auch Auswirkungen auf die jetzt verlängerten Laufzeiten haben.

Denn Umweltschützer befürchten seit Langem, dass die Reaktordruckbehälter bei der Langzeitnutzung eine Gefahrenquelle darstellen. "Wir befinden uns hier auf vollkommenem Neuland", sagt Heinz Smital, Atom-Experte bei Greenpeace. "Die durchschnittliche Lebensdauer von Atomkraftwerken beträgt weltweit gerade mal 21 Jahre."

Die stählernen Gefäße, die den Reaktorkern von der Außenwelt abschirmen, können im Unterschied zu Rohrleitungen, Pumpen oder Ventilen bei Wartungen und Erneuerungen der Reaktoren nicht ausgetauscht werden. Der Stahl dieser Gefäße ist deshalb über die gesamte Laufzeit des Reaktors einem permanenten Bombardement von Neutronen ausgesetzt. Neutronen mit einer Energie von mehr als einem Megaelektronenvolt können einzelne Eisenatome aus ihrem Gitterplatz herausschlagen. Diese Atome können noch weitere Teilchen aus dem Gitter schlagen. Im Ergebnis bleiben im Eisengitter Defekt-Cluster zurück, in die Fremdatome einwandern können. Diese Fremdatom-Cluster im Atomgitter behindern die Verformbarkeit des Stahls – die Temperatur, bei der Stahl spröde wird, verschiebt sich nach oben.

Im Normalbetrieb mache das keine Probleme, erklärt Altstadt. Bei rund 300 Grad Betriebstemperatur ist der Stahl "auf jeden Fall zäh und verformbar". Bei einer Schnellabschaltung im Notfall aber muss die Restwärme des Reaktors durch Wasser abgeführt werden. Die Temperatur an der Innenwand des Reaktordruckbehälters fällt dabei innerhalb kurzer Zeit auf rund 50 Grad Celsius ab. Und auch bei diesem "Thermoschock" darf der Reaktordruckbehälter nicht brüchig werden.

Für unbestrahlten Reaktordruckbehälter-Stahl (RDB-Stahl) liegt die Übergangstemperatur zwischen der zähen und der brüchigen Phase – je nach Legierung – bei minus 50 bis minus 80 Grad Celsius. Wie weit sie im Laufe der Zeit durch die Bestrahlung steigt, hängt vom Reaktortyp ab, erklärt Altstadt: Die Reaktoren der WWR-440-Baureihe, die unter anderem auch in Greifswald standen, sind besonders kompakt gebaut. Der Wasserspalt zwischen Reaktor und Druckgefäß, der in AKWs dafür sorgt, dass die aus dem Reaktor austretenden Neutronen abgebremst werden, ist bei diesen Reaktoren also besonders schmal. Der hohe Neutronenfluss in diesen Reaktoren sorgt daher für eine schnelle Alterung: Im Verlauf von 30 Jahren Betriebsdauer steige die Temperatur um 60 bis 70 Grad. "Das andere Extrem", sagt Altstadt, sind die Reaktoren der sogenannten Konvoi-Baureihe, die über einen sehr breiten Wasserspalt verfügen. Für die drei Kraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 rechnen die Experten mit einer Erhöhung von maximal zehn Grad.

Die Erkenntnisse über die Alterung stammen aus sogenannten "Voreil-Proben". Das sind Materialproben, die dicht am Reaktorkern deponiert und so von erheblich mehr Neutronen getroffen werden als die Wände des Reaktordruckbehälters. Bei routinemäßigen Wartungen wurden diese Proben entnommen und auf Zug- und Bruchfestigkeit untersucht. Aus diesen Daten haben die Wissenschaftler bislang "Trendkurven" entwickelt und Regeln für die Zusammensetzung der Reaktorstähle abgeleitet. "Die sind für lange Laufzeiten aber noch nicht validiert", sagt Altstadt.

Frühere, unter anderem auch in Rossendorf durchgeführte Untersuchungen zeigen, dass es nicht egal ist, ob eine bestimmte Gesamtdosis schnell – also mit hoher Neutronen-Intensität – auf den Stahl einwirkt oder über einen längeren Zeitraum, sagt Altstadt. Anders als man zunächst glauben könnte, schädigt eine langsame Bestrahlung das Material unter Umständen mehr als eine schnelle, da die Herausbildung von Fremdatom-Clustern im Eisengitter bei einer langsamen Bestrahlung nicht so stark durch weitere Neutronen gestört wird wie bei einem hohen Neutronenfluss.

Die Rossendorfer Wissenschaftler wollen nun systematisch eine Vielzahl von bestrahlten Materialproben aus europäischen Reaktoren miteinander vergleichen und ihr Augenmerk dabei gezielt auf Proben mit hoher Gesamtdosis bei niedrigeren Neutronenflüssen richten. Außerdem werde man auch eigens angefertigte Legierungen untersuchen, von denen die Wissenschaftler glauben, dass sie besonders empfindlich auf die Strahlung reagieren. Sie werden testen, ob es oberhalb eines kritischen Schwellwertes zu besonders heftigen Schädigungen kommt – dem sogenannten "late blooming effect". Dennoch ist Altstadt optimistisch – er hält die hierzulande verbauten Stähle für hinreichend unempfindlich: "Wir haben in Deutschland die komfortable Situation, dass man die Druckbehälter der neueren AKWs 80 bis 100 Jahre lang betreiben könnte", sagt er.

"Ich halte diese Aussage für hochspekulativ. Sie ist eher politisch motiviert als wissenschaftlich", hält Greenpeace-Experte Smital dagegen. Wie groß der Effekt des Neutronenflusses ist – wie sehr die bisherigen Auslegungsregeln also danebenliegen –, vermag auch er nicht zu sagen. Erste Ergebnisse sollen in drei Jahren vorliegen. (wst)