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Was war. Was wird. Die Jahresanfang-Edition

Memento mori. Wieder geschafft. Und die Hoffnung bleibt, dass das neue Jahr nicht im gleichen Trott weitermacht, meint Hal Faber.

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Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Hal Faber

Was war.

*** Die Zeit ist aus den Fugen,
verfluchte Schicksalstücken,
dass ich geboren ward,
um sie zurechtzurücken.

Was der größte Barde aller Menschenszeiten seinem Hamlet in den Mund legte, trifft auf diese Wochenschau zu. Sie erscheint zur Unzeit, wenn das neue Jahr bräsig in den Betten liegt, wenn kein Schwein die Gans beim Kopfstand bewundert und wenn sich wirklich niemand für die Zugriffszahlen auf heise online interessiert. Traditionell gehört der Blick auf die Statistiken zur Jahresend-Edition des WWWW, die dank der Fugung und Faltung der Zeit eine Jahresanfangsausgabe geworden ist. Während die ersten Tankstellen E10 ausschenken, die "Luftverkehrsabgabe" wirksam wird und nach ELENA das niedliche Schwesterchen ELStAM in den Windeln kräht, schweift der Blick zurück auf die Schicksalstücken des Jahres 2010.

*** Memento moriendum esse: Gleich zweimal dachten die Hacker beim Jahrestreffen des Chaos Computer Clubs an den Datenschützer Andreas Pfitzmann, beim Jahresrückblick wie bei der Vorschau auf die Sicherheitsalpträume des kommenden Jahres. Andreas Pfitzmann war es, der in seinem eindrucksvollen Plädoyer vor dem Bundesverfassungsgericht zum Stand der Überwachung die Richter darauf aufmerksam machte, dass wir gespeicherte Computerdaten nicht nur im Notebook oder im Smartphone in der Brusttasche mit uns tragen, sondern die Daten im Körper sind, in Herzschrittmachern und Hörhilfen, in Erinnerungs- und Denkhilfen. Die Freiheit und Unbeobachtbarkeit des Denkens ist so in Gefahr, zerstört zu werden:

Hierbei bitte ich, die Implantierung bzw. Implantierbarkeit von Rechnern als Sinnbild zu verstehen. Ich verwende es, weil es aus medizinischen Gründen bei vielerlei Gebrechen oder Behinderungen (wenn nicht darüber hinaus) künftig realisiert wird, und weil es auch für mit Informations- und Kommunikationstechnik bislang wenig Vertraute verdeutlicht, welch enge, symbiotische Verbindung zwischen unserem Gehirn und Sein künftig mit persönlichsten Rechnern bestehen wird. Wir werden in diese Rechner zunehmend verloren gegangene Fähigkeiten auslagern, um sie so wiederzugewinnen. Wir werden an sie persönlichste Denk- und Merkfunktionen delegieren, um uns zu entlasten (Bsp. Simulation von gedachten Welten zur Exploration der Auswirkungen von Änderungen in den Annahmen). Persönlichste Rechner einer wie auch immer gearteten Durchsuchung zu unterwerfen, bedeutet eine sukzessive Einschränkung und schließlich Auflösung dessen, was wir als Grundwert des Schutzes der Person, ihrer Autonomie, Freiheit und Würde kennen.

Pfitzmann verstarb im Alter von 52 Jahren und hatte nicht die Chance eines Maurice Wilkes, sein Lebenswerk zu vollenden und ein bemerkenswertes Jubiläum selbst zu kommentieren. Memento mori: 2010 starben viele große Geister, die auf ihre Weise den Computer als Aufregung wie als Anregung verstanden. Erinnerst sei an Theo Lutz und an Ed Roberts, den Förderer von Bill Gates, an Martin Gardner, Benoît Mandelbrot und an majo, der bis zum Schluss Optimist war.

*** Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nichts angeht. Mich interessiert es auch nicht mehr. Ich spiele nicht mehr mit.

Was Heiner Müller in der Hamletmaschine aufgeschrieben hat, mag sich von Gravenreuth gedacht haben, als er seinem Leben ein Ende setzte. Es ist kein Geheimnis – und ich habe es hier aufgeschrieben – dass von Gravenreuth vor Gericht in der Frage siegte, ob das WWWW auf ein waffenstarrendes Foto von ihm im Kampfanzug verlinken darf. Ich durfte es nicht, das Gericht bewertete diesen Link auf sein öffentlich abrufbares Foto als Verletzung des Persönlichkeitsrechtes. Von Gravenreuth erschoss sich und sorgte damit für einen bisher noch nie erlebten Run auf heise online. Mit 2.463.634 Abrufen ist die Meldung von seinem Tod der absolute Zugriffsrekord seit Bestehen von heise online. Auf Platz 2 der Alltime-Superstarliste liegt mit 2.095.596 Zugriffen die Meldung über eine Niederlage des Rechtsanwaltes, die in letzter Konsequenz zum Suizid führte. Es liegt ein satanisches Lachen über diesen Zahlen und es kommt von weit her.

*** Die Top-Meldung des Jahres 2010 im Bereich der IT besorgte Apple mit iPhone 4 und 1.181.585 Zugriffen. Addiert man jedoch die Meldungen zu einem einzigen Thema, dann ist Julian Assange von Wikileaks der eindeutige Sieger. Die verschiedenen Nachrichten vom Hin und Her in Schweden wurden 2.756.123 mal abgerufen. In dieser Zahl sind nicht die Coups von Wikileaks enthalten, die es allesamt unter die Top 100 des Newstickers schafften. Auf Platz drei der Topmeldungen schaffte es zum Jahresanfang eine Meldung über den Online-Zwang für Offline-Spieler mit 1.015.515 Zugriffen, auf Platz vier kletterte zum Jahresende eine Meldung über Blogs, die aufgrund des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages den/das Blog schließen wollen mit 999.083 Zählern.

*** Addiert man wiederum thematisch eng zusammenhängende Meldungen, so ergibt sich folgendes Bild der verehrten Heise-Leserschaft im IT-Bereich: Die neuen Rundfunkgebühren waren das Top-Thema Nr. 1 des Jahres 2010, gefolgt von der Debatte über Sperren für Kinderpornografie und der Niederlage in Sachen Vorratsdatenspeicherung. Diese drei Themen dominieren mit großem Abstand die Zugriffsstatistiken. Nimmt man die jüngsten Debatten über Quick Freeze bzw. das Quick Freeze Plus des Bundesdatenschützers sowie die Debatte zwischen Bundesinnenminister und Bundesjustizministerin hinzu und klatscht die diversen Zierckelschlüsse zum Thema als Sahnehäubchen obenauf, so steht der Themenkomplex Vorratsdatenspeicherung als unanfechtbarer Sieger des Jahres 2010 da. Dabei ist die Indizienkette drückend genug, dass diese "Vorratsdatenspeicherung light" auch 2011 ein Superthema sein wird.

*** Eine kuriose Sammlung ergibt sich übrigens, wenn man die Highlights anderer Online-Angebote des Heise-Verlages hinzunimmt. Danach wäre der typische Heise-Besucher ein Unimog fahrender Mann, der sehr gerne über Sex redet und sich regelmäßig im Off Topic aufhält. Der einen Job in der IT hat oder Informatik studiert, der Linux nutzt und dabei mit seinem iPad spielt. Der ausgiebig über Assanges Sex in Schweden spekuliert, sich gerne über Rundfunkgebühren und die GEZ im Allgemeinen aufregt und als "Zweitmeinung" häufig Thesen zum Besten gibt, die er drüben bei Fefe gefunden hat.

Was wird.

Wir mästen alle andern Kreaturen,
um uns selbst zu mästen;
und uns selbst mästen wir für die Maden.
Der fette König und der magre Bettler sind nur verschiedne Gerichte;
zwei Schüsseln, aber für eine Tafel:
Das ist das Ende vom Liede.

Heute würde Isaac Asimov seinen Geburtstag feiern, der IT bekannt als Vater der Robotergesetze. Durch Unterschiede im gregorianischen und hebräischen Kalender ist sein Geburtstag nicht genau belegt und Asimov selbst hielt den 2. Januar für einen guten Tag, um ohne die üblichen guten Vorsätze zu feiern. "Die Sciene Fiction beschreibt das Unvermeidliche. Obwohl Probleme und Katastrophen unvermeidlich sind, sind Lösungen nicht unvermeidlich." Natürlich hat einer der produktivsten Buchautoren des letzten Jahrhunderts über unseren Leitstern Hamlet geschrieben und die Sache so kommentiert, dass Hamlet den Usurpator Claudius nicht einfach nur töten wollte, um seinen Vater zu rächen. Er wollte ihn stracks zu den Verdammten der Hölle schicken. Das Ende vom Liede? Von wegen. Für Asimov ein klarer Fall der Übermotivierung.

Das Jahr ist jung, die Prognosen ebenfalls. Mein Favorit ist die Vorhersage, dass Microsoft seit Windows 98 in seine Microsoft-Tastaturen einen Leser der User -Gedanken verbaut und die Gedanken seitdem systematisch auswertet. Der Geist in der Tastatur, das wäre eine Wendung, die Pfitzmann gefallen hätte, als Beispiel dafür, was der Bundestrojaner anrichten kann. Für 2010 versuchte einstmals der verstorbene Theo Lutz, eine Reihe von Prognosen aufzustellen. Er relativierte die Rolle der Künstlichen Intelligenz und lag damit richtig, er lobte den selbstverständlich gewordenen Datenschutz als Bürgerrecht und lag damit völlig daneben. 2010 ist ein Jahr geworden, in dem Politiker wie Polizisten unermüdlich daran arbeiteten, den Datenschutz auszuhöhlen, mit Argumenten, in denen spätestens im dritten Satz der Terror angeschlichen kam. Selbst die hochgelobte Reform des Beschäftigtendatenschutzes wurde geplättet und das direkte Verbot der Videoüberwachung zur Leistungskontrolle abgeschwächt. Ob Wikileaks oder ob in dem 2011 startenden Openleaks, der deutsche Whistleblower ist zuallererst der untertänige Arbeiter, der sich erst dann an die Datenschützer wenden darf, wenn eine Beschwerde beim Arbeitgeber folgenlos geblieben ist und nicht beachtet wird.

Das Jahr ist jung und doch gibt es bereits Meldungen genug, dass der Ticker weitertickern kann. Um 2 Uhr begann der Reigen mit einem Gruß des Bundesinnenministers, der es schaffte, Paralympics, das Unglück auf der Duisburger Loveparade, die Flut in Pakistan und die Warnung vor dem internationalen Terror in einem Text zu erwähnen, der mit dem Lob freiheitlicher Lebenskultur endet. Wir werden sehen, ob diese unsere FLK das Jahr 2011 überlebt oder nicht etwa unter besondere Beobachtung durch Leute wie "Simon Brenner" steht, die alles stasimäßig unterwandern, was irgendwie von mov wahlzettel, bubuerger abweicht. Zum eingangs erwähnten Jahrestreffen des CCC hat der Niederländer Rob Gongrijp eine Rede gehalten, die einen bemerkenswerten Passus über die deutschen Verhältnisse enthielt, der nicht sonderlich beruhigend klingt: "Wenn man Deutschland mit einem Bus vergleicht, dann ist es so, als wären die Richter aufgesprungen und hätten den Fahrer vom Sitz gezerrt, nur um auf die Bremse zu treten, ehe der Bus in den Abgrund rast." Wenn auch die mutigen Richter die Katastrophe verhindert haben, stellt sich die Frage, wer 2011 am Steuer sitzt. Politiker, die am Lenkrad drehen, ohne zu wissen, womit es eigentlich verbunden ist? In Kürze startet in München das Gegenstrück zu einem CCC-Kongress, die Digital Life Design, auf der die Aufreger des Web 2.0 verhandelt werden. Mit Randi Zuckerberg, die über die ISV (Initial Shaving Experience) des Facebook-Gatten berichtet. Der Auftrieb findet unter dem Motto "Update your Reality" statt. Ach bitte, wo geht es denn zu dieser Realität.

Statt des sonst üblichen Kolophons ein Lied, das Angela Merkel mitsummen mag. Der Traktor ist kaputt, der Bus ist auch kaputt, mit dem Ersatzteile geholt werden können, die letzte Scheune ist abgebrannt, aber hey: Shine on you, crazy diamond.

Der Rest ist Schweigen. Oder, mag man die Hoffnung nicht aufgeben: Versammeln wir uns Unter der großen Sonne, mit Liebe beladen. (jk)