Das waren die Roots: Wie das Internet nach Deutschland kam

Das deutsche Internet kennt viele Geburtstage. Aber der 27. April? Weil das Internet eine einzigartige Lektion über "unerwartete Konsequenzen einfacher technischer Entscheidungen" ist, störte sich niemand am schrägen Datum der Feier in Bonn.

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Von
  • Detlef Borchers

Das deutsche Internet kennt viele Geburtstage. Da wäre der 5. November 1986 zu nennen, als .de entstand. Oder der 1. September 1984, als die erste Internet-Mail beim ersten CSNet-Knoten in Karlsruhe eintraf. Auf den 27. April 1986 wäre wohl niemand gekommen: Das ist der Tag, an dem das Bonner Haus der Geschichte 20 Jahre später einen Termin frei hatte und einen würdigen Rahmen für die Feier abgab, die unter dem Titel "Wie das Netz nach Deutschland kam" begangen wurde. Fünf deutsche Internet-Pioniere und der Vater des deutschen Bildschirmtext-Systems trugen gut gelaunt vor etwa 100 Veteranen (so bezeichneten sie jedenfalls die Veranstalter) ihre Erinnerungen vor: an die protokolltechnisch wilden 80er vor, als das Internet nach Deutschland sickerte; an die verrückten 90er, als sich sogar das deutsche Parlament mit der Frage beschäftigte, ob das deutsche Volk durch den OSI-Standard geschädigt wurde oder ob es mit dem amerikanischen TCP/IP Schaden erleiden wird; an die wilden 2000er, als das Netz kommerziell explodierte (T-Online ging an die Börse) und implodierte (KPNQwest meldete Insolvenz an). Gerade weil das Internet eine einzigartige Lektion über "unerwartete Konsequenzen einfacher technischer Entscheidungen"(Vint Cerf) ist, störte sich niemand am schrägen Datum.

Das deutsche Internet hat also eine Geschichte – und sie ist die Geschichte eines großen Selbstbetrugs. Wie der Geburtstags-Organisator Klaus Birkenbihl vom German Chapter der Internet Society in seinem einleitenden Vortrag ausführte, entstanden Anfang der 80er Vernetzungen unter den Forschungsinstituten, vorzugsweise gefördert von IBM, das mit seinem European Academic Research Network (EARN) eifrig darauf bedacht war, seine Rolle als Monopolist bei den Großrechnern zu schützen. Das solchermaßen auf Landkarten gezogene Netz kannte nur Knoten mit IBM-Technik.

Daneben installierte sich als Gegenkraft das Deutsche Forschungsnetz (DFN), das strikt auf Herstellerunabhängigkeit setzte und nach Wegen suchte, jenseits des Postmonopols die Rechner zu verbinden. In den ersten drei Jahren erhielt das DFN 30 Millionen Mark und stellte ein 20-köpfiges Projektteam ein, das die Entwicklung eines offenen Standards unter dem Namen Open Systems Interconnection (OSI) betreuen sollte. Drei Jahre später, IBM stellte seine Finanzierung von EARN ein, das DFN begann die erste Testphase der OSI-Protokolle, legten Vernetzungen an den Universitäten Dortmund (später Eunet) und Karlsruhe (später Xlink) kräftig zu. Hier wurde das amerikanische Protokoll TCP/IP eingesetzt. Als nach dem Aus für EARN das EASinet von IBM als Supercomputernetzwerk entstand und auch das Netz der Arbeitsgemeinschaften deutscher Großforschungsinstitute, das AGFnet, gebildet wurde, setzte man auf TCP/IP, nicht ohne eine bindende Vereinbarung zu veröffentlichen, nach der die OSI-Protokolle eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Weltforschungsnetzes sind – wenn sie denn erst einmal reif sind. "Bei Internet vs. OSI ging es wie immer um Geld, Macht und Sex", kommentierte Birkenbihl. Am Ende gewann das einfachere TCP/IP, auch wenn niemand das zugeben wollte.

Michael Rotert ergänzte als Geschäftsführer von Xlink die Internet-Geschichte um den Aspekt, wie aus den universitären Arbeitsgruppen an den Universitäten Dortmund und Karlsruhe die ersten Internet-Provider entstanden. Er machte dabei auf die ökonomischen Aspekte aufmerksam. Am Anfang kostete ein Datenvolumen von 1 GByte rund 60.000 Mark pro Monat, ein einfaches Mail-Postfach 75 Mark. Umgerechnet auf heutige Verhältnisse würde jede Spam-Mail 50 Cent kosten: "Wenn Dienste jetzt wieder kostenpflichtig werden, so ist das ein Schritt in die richtige Richtung, solche Auswüchse zu verhindern", erklärte Rotert. Nach seinen Angaben hatte die Internet-Blase so gut wie keinen Einfluss auf das kontinuierliche Wachstum des Internet. "Heute sind in Europa 450 Millionen Verdächtige im Internet aktiv, darum greifen die Staaten zur Vorratsdatenspeicherung. Diese Schnüffelei ist einfacher als normale Ermittlungsarbeit."

In weiteren Referaten ergänzten Hans Peter Dittler und Peter Streibelt die Entstehungsgeschichte des deutschen Internet um Details wie die Protokollvielfalt, die innerhalb des EARN existierte. Sabine Dolderer erzählte, wie sich das DeNIC aus bescheidenen Anfängen zu einer Genossenschaft mit 95 Beschäftigten entwickelte, die Server in aller Welt unterhält, die 1 Milliarde Zugriffe am Tag verarbeiten müssen. Für T-Online stellte Eric Danke dar, wie Bildschirmtext ab 1975 geplant und programmiert wurde, ein Rechnersystem, das eigentlich nach der Idee des Briten Sam Fedida den Fernseher zum Datenterminal umfunktionieren sollte. Bis in die 90er-Jahre krebste das System herum. Beim ersten Blick auf den Browser Mosaic im Jahre 1995 hatte Danke dann ein "Schlüsselerlebnis". Mit der kostenlosen Verteilung von 850.000 Internet-CDs erzielte T-Online dann den Durchbruch und gewann innerhalb kürzester Zeit 3,3 Millionen Teilnehmer. Heute ist man nach Danke mit 12 Millionen der größte deutsche Anbieter und nimmt mit VoIP, "dem Abwandern der Sprache ins Netz", der Mutter Telekom die Kunden weg.

Insgesamt litt die Geburtstagsveranstaltung darunter, dass neben den Universitätsabkömmlingen und T-Online als Hauptsponsor dieser Bonner Geburtstagsfeier die Alternativen nicht anwesend waren. Damit sind nicht nur Compuserve und AOL gemeint, damals zwei separate Firmen. Sowohl die Aktivisten des Fidonet wie die rührigen Internet-Unternehmer der ersten Stunde, etwa wie der unermüdliche Günther Leue und sein Geonet mitsamt der Chalisti-Ecke des Chaos Computer Clubs waren bei dieser Geburtstagsfeier nicht eingeladen. Aber das deutsche Internet hat, wie das Internet überhaupt, noch viele Geburtstage.

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(Detlef Borchers) / (jk)