15 Meiler um eine Stadt

TR-Autor Martin Kölling berichtet direkt aus Japan: Atomingenieure in Tsuruga, der Stadt mit der höchsten Reaktorendichte der Welt, gruseln sich vor dem GAU in Fukushima.

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  • Martin Kölling

TR-Autor Martin Kölling berichtet direkt aus Japan: Atomingenieure in Tsuruga, der Stadt mit der höchsten Reaktorendichte der Welt, gruseln sich vor dem GAU in Fukushima.

Eine Frage, die mich persönlich fasziniert, ist, warum der bisher ja zum Glück noch verhältnismäßig kleine Fallout der Atomkatastrophe in Fukushima im fernen Deutschland die Atomindustrie zu beerdigen droht, während hier in Japan noch kein lauter Schrei nach dem Ausstieg zu vernehmen ist.

Auf der Suche nach einer Antwort bin ich am Dienstag nach Tsuruga gefahren, der Stadt mit der höchsten Atomkraftdichte der Welt. 15 Meiler, darunter der 16 Jahre lang wegen eines Natriumbrands geschlossene Schnelle Brüter "Monju", stehen an der Wakasa-Bucht. Die Reise brachte mir zwei Erkenntnisse: 1. Selbst japanische Atomingenieure halten Tokio für weniger sicher, als die meisten Menschen denken. 2. Niemand sollte eilfertig sein Geld darauf wetten, dass Japan nun aus der Atomkraft aussteigt.

Zu 1.: In Tsuruga traf ich mehrere verdiente Mitarbeiter der japanischen Atomindustrie. Einer war ein recht junger Herr, der als Kontrolleur einen Siedewasserreaktor von dem Typus bedient, wie er in Fukushima nun Probleme bereitet. Er war sichtlich geschockt über das Ausmaß der Katastrophe, denn alle Sicherheitsmechanismen seien zerstört worden. Damit hätte er nie gerechnet. Auf die Frage nach der Lage an den Reaktoren sagte er schlicht: instabil. Er wisse nicht, wie man die noch steuern könne. Es gibt ja kaum Daten, das Kontrollzentrum ist unbrauchbar, bei Reaktor 2 gibt es Lecks. Prekär.

Ein anderer Insider riet mir, doch besser von Tokio nach Osaka umzusiedeln. "Tokio ist nicht sicher, zu nah dran", widersprach der Mann all jenen Experten, die für Tokio Entwarnung geben. Mein liebster Kandidat aus dieser Riege ist der Brite Sir John Beddington, wissenschaftlicher Chefberater der Regierung im Vereinigten Königreich. Er prägte den Begriff des "annehmbaren schlimmsten Falls" (reasonable worst case). Und darin würde weder eine "radioaktive Explosion" noch eine Strahlenwolke Tokio schwer treffen.

Unglücklicherweise kursieren unter Experten aber offenbar auch richtige Worst-case-Szenarios. Und nach denen könnte Tokio bei ungünstigen Winden und Regen just in dem Moment, wo die nukleare Wolke über die Stadt zieht, hart getroffen werden. Die Chance gilt zwar als gering, aber es gibt sie.

Dass die Tokioter dennoch so ruhig reagieren, ist für mich kein Trost. Denn in ihrem Fall trifft das neue Sprichwort zu: Wenig zu wissen, ist ein sanftes Ruhekissen. Für die meisten kam der Strom bisher aus der Steckdose. Atomunfälle hielten sie in Japan für unmöglich (obwohl das Land mehrere große wie den Monju-Brand hatte). Lieber höre ich in diesem Fall auf meine neuen Bekannten und die deutsche Botschaft, die vorige Woche Mittwoch die in Tokio und Ostjapan lebenden Deutschen recht eindringlich zum Umzug nach Westjapan aufgefordert hat - und dieser Empfehlung selbst am Freitag gefolgt ist. Ich habe mich am Donnerstagmorgen abgesetzt. Und nun gibt ja selbst die japanische Regierung zu, dass noch nichts gewonnen ist ("die Lage ist hart").

In meinem Laienverstand scheint es sich um einen wahren Drahtseilakt zu handeln. Derzeit wackeln die Reaktoren so auf dem Seil herum, dass es stabil aussieht. Aber es kann sich jederzeit verschlechtern. So haben einige der Meiler bereits wieder Strom. Aber das da ein Kabel liegt, hilft noch nicht viel, sagte mir der eine Ingenieur. Jetzt müssen erstmal die Anlagen von Salz und Wasser und Dreck gereinigt werden. Dann müssen sie geprüft werden. Dann angestellt. Dann brechen sie wahrscheinlich zusammen. Dann müssen sie wieder repariert und nachjustiert werden. Das dauert Tage. Und das geht nur, wenn die Radioaktivität nicht steigt. Noch prekärer wird die Lage dadurch, dass man es nicht nur mit einem, sondern mindestens vier schwer beschädigten und ein paar weiteren leichter beschädigten Reaktoren zu tun hat. Ich frage mich, wie viel Glück man haben muss, um die alle heil durch die Krise zu bringen.

Zu 2.: Die Menschen in Tsuruga halten der Atomkraft die Treue. Sie denken dabei durchaus logisch: "Natürlich habe ich Angst", sagt mir eine Mutter, "aber wir brauchen doch den Atomstrom. Wir wollen ja nicht bei Kerzenlicht leben". Und dann seufzt sie: "Shoganai – da kann man nichts machen." Shoganai, es ist eines der am meisten gebrauchten und von mir am meisten verschmähten Wörter. Denn in der Regel zeigt es einen Mangel an Vorstellungsvermögen oder Willen, sich Alternativen zu überlegen. Man kann nun einwenden, dass die Bewohner in der Tasche der Atomindustrie stecken, weil ihr Wohlstand von den AKWs abhängt. Aber ich erwarte, dass viele Menschen in Japan dieses Argumente dennoch kaufen werden. Denn die Diskussion über die Gefahren der Atomkraft sind noch ganz am Anfang begriffen.

Das weiß auch Hideyasu Ban, Chef der Anti-AKW-Gruppen Citzens Nuclear Information Center (CNIC). Um all den frisch gewendeten Atomkraftgegnern Argumentationshilfe zu geben, will das CNIC konkrete Ideen präsentieren, wie der Atomstrom langfristig abgestellt werden kann. "Denn nur mit dem Schrei "Gefahr" erreichen wir nichts", sagt Ban. Zu mächtig ist die Atomindustrie. Er glaubt trotzdem, dass die Menschen ihm diesmal folgen werden. "Ich denke, dass die Japaner nun sagen werden: Wir sollten aus der Atomenergie aussteigen, weil es zu riskant ist." Ban erwartet, dass die Regierung nun auf erneuerbare Energien setzten wird, deren Förderung bisher hinter der der Atomkraft hinterherhinkten. Bei vielen Politikern will er bereits ein Umdenken erkannt haben.

Sein Weggefährte, der buddhistische Mönch Nakajima Tetsuen, Abt des über 1000 Jahre alten Myotsu-Tempel in Obama bei Tsugaru, ist da skeptischer. "Ob die Regierung die Politik ändert, wird von den Bewohnern der großen Städte abhängen", sagt er. Besonders denen Tokios. Die erleben durch den Ausfall der AKWs erstmals Stromrationierungen, die vielleicht bis in den Sommer anhalten werden. Dann müssten die Städter vielleicht sogar ohne Klimaanlagen schlafen.

Nakajima befürchtet, dass sie spätestens dann ihre heutige Angst vor Verstrahlung ausschwitzen werden. "Ich weiß einfach nicht, ob sich die Menschen für ihre Bequemlichkeit oder ihre Sicherheit entscheiden werden", sagt Nakajima. Sehr weise, genau diesen Punkt haben in den letzten Tag Freunde von mir angesprochen. Nach einer Trauerzeit und ein bisschen mehr Geld für alternative Energien kann ich mir sehr gut vorstellen, dass Japaner wieder auf die Atomkraft setzen – nach dem Motto "Shoganai". (bsc)