Lesen in den Isotopen

Spaltprodukte aus dem AKW Fukushima I finden sich inzwischen in aller Welt und erlauben Forschern neue Einblicke in den GAU in Fernost. Die ersten Erkenntnisse dürften vor allem für die US-Nuklearindustrie folgen haben.

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Von
  • Peter Fairley

Spaltprodukte aus dem AKW Fukushima I finden sich inzwischen in aller Welt und erlauben Forschern neue Einblicke in den GAU in Fernost. Die ersten Erkenntnisse dürften vor allem für die US-Nuklearindustrie folgen haben.

Wie es in den havarierten Reaktoren von Fukushima wirklich aussieht, weiß wahrscheinlich nicht einmal die Betreiberfirma Tokyo Electric Power (Tepco) zu sagen. Klar ist aber: Der GAU im AKW Fukushima I wächst sich in Zeitlupe zu einem Super-GAU aus, in dem immer mehr radioaktive Stoffe freigesetzt werden. Inzwischen ist die strahlende Fracht in fast alle Winkel des Globus verweht worden – und erlaubt Wissenschaftlern neue Einblicke in das Unglück.

Gerhard Wotawa, Meteorologe an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien, hat mit seinem Team die Messdaten von Strahlungsdetektoren ausgewertet, mit denen eigentlich die Einhaltung des Atomteststoppabkommens überwacht werden soll. Danach sei allein in den ersten vier Tagen radioaktives Iod-131 mit einer Aktivität von 1,3x1017 Becquerel (Zerfällen pro Sekunde) pro Tag freigesetzt worden, sagt Wotawa.

Die Iod-Menge entspreche einem Fünftel dessen, was durch den Super-GAU von Tschernobyl in die Atmosphäre gelangt sei. Trotz einer vergleichsweise kurzen Halbwertszeit von acht Tagen erhöht das Isotop, wenn es einmal in die Schilddrüse gelangt ist, das Krebsrisiko erheblich. Eine in der vorletzten Woche vom US-amerikanischen National Cancer Institute veröffentlichte Studie fand heraus, dass die jährliche Rate von Schilddrüsenkrebs-Erkrankungen in der Nordukraine auch 25 Jahre später noch immer nicht zurückgegangen ist.

Auch die Menge an freigesetztem Cäsium-137 scheint beunruhigende Ausmaße zu haben: Wotawa schätzt sie bei einer Aktivität von 5x1016 Becquerel pro Tag auf die Hälfte des Cäsium-Auswurfs in Tschernobyl. Weil Cäsium-137 eine Halbwertszeit von 30 Jahren hat, wurde ein Gebiet von 30 Kilometern Radius um den Tschernobyl-Reaktor herum bis auf weiteres zur Sperrzone erklärt, wurden kurz nach der Katastrophe mehr als 100.000 Menschen umgesiedelt.

Die hohe Cäsium-137-Menge deutet für Wotowa darauf hin, dass auch aus den ausgetrockneten und überhitzten Abklingbecken erhebliche Radioaktivität ausgetreten ist. Während Iod-131 in abgebrannten Brennstäben rasch zerfällt – die Brennstäbe in Block 4 wurden Ende November 2010 in die Becken abgelassen –, bleibt das strahlende Cäsium-137 noch lange Zeit in nennenswerten Mengen erhalten.

Auch Jonathan Diaz Leon und seine Kollegen an der University of Washington in Seattle (UWS) fingen kurz nach nach Beginn des GAUs am 12. März mit zunächst prophylaktischen Messungen an. Sie entfernten in regelmäßigen Abständen die Luftfilter im Belüftungssystem des Physik- und Astronomie-Gebäudes der UWS und maßen die Strahlungsaktivität, die von ihnen ausging. In den ersten Tagen stellten sie nichts Ungewöhnliches fest. Doch dann, am 17. März, begannen die Werte allmählich zu steigen.

Indem sie nun die Energie der Gammastrahlung aus dem Filtermaterial maßen, konnten sie feststellen, welche Spaltprodukte ihren Weg über den Pazifik gefunden hatten: geringe Mengen von Tellur-132, von Iod-131, Iod-132 und Iod-133 sowie von Cäsium-134 und Cäsium-137.

Zwar betrug etwa die Strahlungsmenge durch Jod-131 nur ein Hunderstel des Grenzwerts, den die US-Umweltbehörde EPA festgelegt hat. Aber aus den Spaltprodukten konnten sie wichtige Schlüsse ziehen, was in Fukushima vor sich gegangen sein muss. Die Tatsache, dass die Menge des kurzlebigen Iod-133 – Halbwertszeit: 20 Stunden – im Vergleich zum langlebigeren Iod-131 extrem gering war, legt nahe, dass die reguläre Kernspaltung sehr rasch aufgehört haben muss. In einem brennenden Reaktor liegen Iod-133 und Iod-131 im Verhältnis von ungefähr zwei zu eins vor.

Und obwohl in einem Kernreaktor zahlreiche Spaltprodukte entstehen, konnten die drei Wissenschaftler nur Iod, Cäsium und Tellur nachweisen. „Das deutet darauf hin, dass sie in einem spezifischen Prozess in die Atmosphäre gelangt sein müssen“, schlussfolgern Diaz und seine Kollegen. Weil Cäsiumiodid leicht löslich in Wasser ist, nehmen sie an, dass die Stoffe in Wasserdampf aus dem Reaktor entwichen.

Im Fallout von Tschernobyl hingegen habe man sehr viele verschiedene Spaltprodukte gefunden, weil sie durch den Brand direkt aus den Brennstäben in die Atmosphäre gelangen konnten, so Diaz. Allerdings decken ihre Messungen, die sie auf dem arXiv-Server veröffentlicht haben, nur die Zeit vom 12. bis 18. März ab. Da die Spaltprodukte etwa sieben Tage bis in die Region Seattle brauchten, konnten sie den Fallout aus dem überhitzten Abklingbecken von Block 4 noch nicht berücksichtigen. In Kürze wollen sie weitere Ergebnisse veröffentlichen.

Die Abklingbecken in den Blöcken 3 und 4 sind es, die Kernphysikern und Kerntechnikingenieuren in der Tat besondere Sorgen machen. Seit den Wasserstoffexplosionen vom 14. und 15. März liegen sie frei – und aus den Beckentrümmern von Block 4 steigt immer wieder Rauch auf. William Borchardt von der amerikanischen Nuklearregulierungsbehörde NRC etwa hält die Becken für die Hauptquelle der Strahlung.

Sollte sich diese Einschätzung bestätigen, dürfte dies vor allem auf die US-Atomindustrie Auswirkungen haben. Atomexperten rechnen bereits damit, dass die Sicherheitsanforderungen für die Abklingbecken der 104 amerikanischen Reaktoren verschärft werden, wenn die NRC Ende Juni ihre 90-tägige Sicherheitsüberprüfung abgeschlossen hat. Borchardt erwartet unter anderem strengere Auflagen für die Notstromversorgung und die Kühlsysteme der Abklingbecken.

Weil die USA ebenso wie Deutschland die Transporte abgebrannter Brennstäbe zu Wiederaufarbeitungsanlagen ausgesetzt haben, wächst die Menge des Atommülls in den Kernkraftwerken. In den USA wollte man ihn eigentlich zügig ins Endlager Yucca Mountain in Nevada entsorgen – dazu kam es jedoch nicht. Während abgeklungene Brennstäbe in Deutschland seit 2005 in Castor-Behältern in Standort-Zwischenlagern aufbewahrt werden, stapeln sie sich in den amerikanischen Abklingbecken zunehmend – und erhöhen so das Unfallrisiko.

Der MIT-Forscher Charles Forsberg, leitender Autor eines im Herbst 2010 veröffentlichten Reports zum Brennstoffkreislauf, geht davon aus, dass sich wegen des Fukushima-GAUs in den USA die Umladung in Castor-artige Behälter beschleunigen wird. Weil die Kühlung der nurmehr heißen Brennstäbe passiv über Kühlrippen in der Behälterwand erfolge, „kann damit nicht viel schiefgehen“, meint Forsberg.

Schon jetzt sind in einigen US-Kernkraftwerken die Abklingbecken so überfüllt, dass ältere Brennstäbe in Behälter umgefüllt werden, um Platz zu schaffen. Wenn man dies intensiviere, habe man weniger Nachzerfallswärme und relativ mehr Kühlwasser in den Becken, „falls schlimme Dinge passieren“, so Forsberg.

Bereits 2006 hatte ein Report des U.S. National Research Council sich für eine Standort-Zwischenlagerung in Transportbehälter stark gemacht. Der heutige NRC-Direktor Gregory Jaczko nannte damals eine Umlagerungsvorschrift eine „eindeutige Chance“, um die Sicherheit der US-Kernenergie zu erhöhen.

Doch wie so oft hängt diese Maßnahme am Geld: Auf 43 bis 109 Millionen Dollar werden die Kosten für eine beschleunigte Umlagerung geschätzt. Der Strompreis werde dadurch nur „unwesentlich“ steigen, sagt Forsberg. Die Kernenergiebetreiber, die 18 Milliarden Dollar aus ihren Erlösen in einen Fonds für das Endlager Yucca Mountain eingezahlt haben, sträuben sich jedoch, die Kosten zu übernehmen. „Brennstäbe vom Reaktorgelände zu entfernen, obliegt der vertraglich vereinbarten Verantwortung der US-Regierung“, erklärt eine Sprecherin des Energieversorgers Southern Company, der sechs Reaktoren im Südosten der Vereinigten Staaten betreibt und von der NRC gerade eine Standortgenehmigung für zwei neue Reaktoren bekommen hat.

David Lochbaum von der Union of Concerned Scientists hofft jedoch, dass die Reaktorbetreiber nach Fukushima aufwachen. „Sie müssen Milliarden Dollar schwere Anlagen sichern – eine der billigsten Lösungen wäre es, die Brennstäbe in eine weniger anfällige Position zu bugsieren“, sagt Lochbaum.

Zum Weiterlesen:

Diaz, Jonathan et al.: „Arrival Time And Magnitude Of Airborne Fission Products From The Fukushima, Japan, Reactor Incident As Measured In Seattle, WA, USA“, arXiv.org. (nbo)