Grün-Rot will im Ländle Datenschutz und Netzneutralität stärken

Die neue Regierungskoalition in Baden-Württemberg verspricht eine "fortschrittliche Netzpolitik" auf Basis von Medienkompetenz, informationeller Selbstbestimmung und einer Absage an Zensurinfrastrukturen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 182 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.

Die neue Regierungskoalition in Baden-Württemberg verspricht eine "fortschrittliche Netzpolitik" auf Basis von Medienkompetenz, informationeller Selbstbestimmung, eines umfassenden Verbraucher- und Datenschutzes sowie einer Absage an Zensur- und Kontrollinfrastrukturen. Ein klares Nein zur Vorratsdatenspeicherung enthält der am heutigen Mittwoch unter dem Titel "Der Wechsel beginnt" veröffentlichte grün-rote Koalitionsvertrag (PDF-Datei) aber nicht. Bei der verdachtsunabhängigen Protokollierung von Nutzerspuren wollen sich Grüne und SPD im Ländle allein dafür einsetzen, die ohnehin zu beachtenden "Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts präzise einzuhalten". Für das vielfach als grundrechtsschonende Alternative gehandelte Verfahren "Quick Freeze" brechen beide Parteien keine Lanze.

"Wir werden die Chancen ergreifen, die das Internet für Demokratie und Teilhabe, Wirtschaft und Arbeit und für das soziale Zusammenleben bietet", versichern die Koalitionspartner. Den Zugang zum Internet wollen sie "als Bürgerrecht" begreifen. Der Breitbandzugang soll "möglichst bald als Bestandteil der Daseinsvorsorge" etabliert und die "digitale Kluft" zwischen ländlichen und städtischen Räumen überwunden werden. Ein Finanzierungskonzept für "Breitband für alle" enthält das 85-seitige Papier aber noch nicht.

Netzneutralität sei der Schlüssel, "um ein freies, offenes Internet ohne unangemessene, freiheitsbeschränkende staatliche oder wirtschaftliche Eingriffe" zu gewährleisten, heißt es weiter. Alle Internet-Dienste müssten transparent und diskriminierungsfrei zu nutzen sein. Die Blockade von Webseiten lehnt Grün-Rot ab, sie vertreten stattdessen das "wirksamere und effizientere" Prinzip "Löschen statt Sperren".

Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren bezeichnen Grüne und SPD als Grundvoraussetzung für die Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Sie wollen deshalb in den Bundesrat Initiativen einbringen, um den Datenschutz "in allen Lebensbereichen wirksam, transparent und bürgernah zu verankern". Ihnen geht es dabei um einen modernen Beschäftigtendatenschutzes in den Aspekten Videoüberwachung, Mitlesen von E-Mails, der Kontrolle der Internetnutzung am Arbeitsplatz, Detektiveinsatz gegenüber Beschäftigten und Informantenschutz. Die Koalition will auch aktiv werden, um ein "internetfähiges Datenschutzrecht" voranzutreiben. Dabei müsse das vom Bundesverfassungsgericht neu entwickelte "Grundrecht der Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität" von IT-Systemen unverletzt bleiben. Kommunikationsdaten von Geheimnisträgern dürften nur unter hohen Auflagen untersucht werden.

Datenschutz sieht das Regierungsprogramm als "Bildungsaufgabe". Behördliche und betriebliche Datenschutzbeauftragte sollen "als wichtiges Element der Eigenkontrolle" gestärkt werden. Bei einer Novellierung des Landesdatenschutzgesetzes soll die Videoüberwachung neu geregelt werden. Die beim Landtag angesiedelte Datenschutzbehörde werde den Status einer obersten Landesbehörde mit eigenen Sanktionsbefugnissen erhalten und angemessenen mit Personal und Sachmitteln ausgestattet.

Den Jugendschutz im Internet will Grün-Rot hauptsächlich stärken, indem Eltern, Lehrkräften, Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz vermittelt wird. Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) solle "zeitgemäß" erneuert werden, wobei die Ergebnisse des "Sonderausschusses Winnenden" berücksichtigt sowie Kinder und Jugendliche als Fachleute in eigener Sache einbezogen werden sollen. Grün-Rot plädiert zudem für ein Gütesiegel, um "praktikable, sichere und nachhaltige Positivlisten-Software" für den privaten Jugendschutz auszuzeichnen.

Die Auswirkungen der jüngsten Änderung des Rundfunkstaatsvertrags auf die Handlungsmöglichkeiten der Öffentlich-Rechtlichen im Internet will die Koalition "kritisch beobachten". Informationsangebote von ARD und ZDF sollten ihrer Ansicht nach "zeitlich unbegrenzt, kostenlos und auf aktuellem Stand der Technik im Internet bereitgestellt werden". Bei der Umstellung der Rundfunkgebühr auf eine Wohnungsabgabe müsse eine verbraucherfreundliche Datenschutzpolitik eingehalten werden. Bei der Erarbeitung von Rundfunk- und Medienstaatsverträgen sollen die Landesparlamente künftig "deutlich stärker und frühzeitig in die Beratungen mit einbezogen werden".

Informations- und Kommunikationstechnik wird in dem Vertrag neben Feldern wie "nachhaltiger Mobilität" oder "Umwelttechnologien, Erneuerbare Energien und Ressourceneffizienz" als einer der Pfeiler beschrieben, auf den die Wirtschaftspolitik ausgerichtet werden soll. Einen besonderen Akzent wollen die Partner dabei auf Cloud Computing, Open-Source-Software und Green IT setzen. Die Landesregierung werde als Betreiber zahlreicher Rechenzentren und als öffentliche Beschaffungsstelle ihren Beitrag leisten, um den Energie- und Rohstoffverbrauch durch Informationstechnik zu senken. Dafür soll ein Chief Information Officer (CIO) in der Verwaltung sorgen. Baden-Württemberg als "Heimat des Automobils" soll zum Leitmarkt für Elektromobilität und zum Leitanbieter für alternative Antriebe, innovative Nutzungskonzepte und vernetzte, ressourcenschonende Mobilität entwickelt werden, wobei die Regierung mit ihrer Wagenflotte mit gutem Beispiel vorangehen will.

Der Zugang zu Datenbanken und E-Journals sowie die Nachhaltigkeit und Nachnutzung wissenschaftlicher Daten erachtet die Koalition als "immer wichtigeren Faktor für Forschungs- und Innovationsprozesse". Sie will deshalb verstärkt in die Informationsversorgung investieren. Gleichzeitig sollen wissenschaftliche Daten einfacher zugänglich werden. Es sei zu prüfen, inwiefern öffentlich geförderte und beauftragte Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit kostenfrei zugänglich gemacht werden könnten. Bürger sollen unter Beachtung des Datenschutzes grundsätzlich freien Zugang zu den bei den öffentlichen Verwaltungen gelagerten Akten bekommen. Auch Richtschnur für das Regierungshandeln soll sein, die zugrunde liegenden Daten und Dokumente im Einklang mit dem Open-Data-Grundsatz "weitestmöglich öffentlich zugänglich zu machen".

Baden-Württemberg soll nach den Ereignissen um "Stuttgart 21" zum "Musterland demokratischer Beteiligung" werden. Eine neue politische Kultur des Dialogs und der Offenheit für Vorschläge soll im Südwesten unter der "Bürgerregierung" Einzug halten. Das Eingaberecht soll weiterentwickelt und die Online-Petition als zusätzliches Instrument eingeführt werden. (anw)