Die Technik des Aufstands

Bei den Protesten in Nahost und Nordafrika haben Aktivisten moderne Technologie eingesetzt wie wohl noch nie zuvor. Doch wie groß war der Einfluss von sozialen Medien und Web-Videos wirklich – und auf welchen Wegen wurden sie genutzt?

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Lesezeit: 18 Min.
Von
  • Sascha Mattke
  • John Pollock
Inhaltsverzeichnis

Bei den Protesten in Nahost und Nordafrika haben Aktivisten moderne Technologie eingesetzt wie wohl noch nie zuvor. Doch wie groß war der Einfluss von sozialen Medien und Web-Videos wirklich – und auf welchen Wegen wurden sie genutzt?

Sie sind jung, sie sagen dauernd "fuck", und selbst der Name ihrer Gruppe "Takriz" ist eine Obszönität: Der Slang-Ausdruck basiert auf dem arabischen Wort für Hoden. Trotzdem wäre es vollkommen falsch, Takriz nur als unbedeutenden Haufen junger Männer mit einem Hang zu Kraftausdrücken zu verstehen: Die Takrizards oder kurz Taks haben schon seit Ende der neunziger Jahre den Wandel in Tunesien vorangetrieben, und sie haben viel dazu beigetragen, dass sich letztlich große Teile des Volkes trauten, gegen das Regime aufzustehen. Der Rest ist fast schon Geschichte: Präsident Ben Ali musste fliehen, und bei den Nachbarn in der Region begann der "Arabische Frühling".

Gegründet 1998, war Takriz nach eigener Darstellung am Anfang ein winziger "Cyber-Think-Tank", der Redefreiheit und bezahlbaren Internetzugang forderte. Die Mitglieder kommunizierten überwiegend übers Netz. Denn "online konnten wir anonym sein", sagt Foetus, ein Technologieberater mit MBA-Abschluss, der sechs Sprachen spricht und nach eigenem Bekunden zum Hacker wurde, weil er sich die hohen Kosten für Telefon und Internet in Tunesien nicht leisten konnte. Seinen richtigen Namen will Foetus ebenso wie die anderen Taks auf keinen Fall verraten – sie sehen sich weiter im Kampf gegen die Nachfolger von Ben Ali, die ihrer Ansicht nach aus demselben korrupten Holz sind.

Die Freiheit im jungen Medium Internet war nur von kurzer Dauer: Im August 2000 wurde die Takriz-Website innerhalb Tunesiens von der Regierung gesperrt. Doch andere Angebote schlossen die Lücke. Ein Kern-Tak namens SuX startete das erste arabisch-afrikanische soziale Netzwerk, genannt SuXydelik. Und Zouhair Yahayaoui, damals ein Tak in den Dreißigern mit dem Online-Namen "Ettounsi" – der Tunesier – gründete das satirische Webmagazin TuneZine. Damit wurde er in Tunesien zur Berühmtheit – und später verhaftet und gefoltert. Im Jahr 2005 starb er im Alter von 37 Jahren an einem Herzinfarkt.

Ettounsi war nicht der Einzige der Taks, der es mit dem Regime zu tun bekam. Die ersten Jahre des neuen Jahrtausends werden von ihnen auch "Jahre der Menschenjagd" genannt – viele unterbrachen ihre politische Aktivität und gingen ins Exil. Andere aber wurden von der Verfolgung erst radikalisiert, zum Beispiel Riadh "Astrubal" Guerfali, ein in Frankreich lebender Juraprofessor. Zusammen mit dem Exil-Tunesier Sami Ben Gharbia fand er innovative Wege der Technologienutzung: Die beiden durchforsteten Websites von Flugzeug-Fans und fanden dort ein Video, das zeigte, wie die verhasste First Lady mit dem Präsidentenjet zum Einkaufen flog. Sie "geo-bombardierten" den Präsidentenpalast, indem sie ihn bei Google Earth und Google Maps mit Videos verlinkten, in denen Menschenrechtler Tunesien kritisierten; wer den Palast bei Google betrachtete, hatte im Handumdrehen Zugriff auf diese Videos.

Eine weitere Innovation waren enge Beziehungen von Takriz zu Fußballfans. "Moscheen und Stadien waren lange die einzigen Orte, wo junge Menschen im Nahen Osten ihre Wut und Frustration ablassen konnten", sagt James M. Dorsey, Senior Fellow an der Nanyang Technological University in Singapur und Autor des Blogs "The Turbulent World of Middle East Soccer". "Fußball wird wenig beachtet", sagt Dorsey, "weil die gewaltbereiten Fans nicht das World Trade Center bombardieren." Doch sie kämpfen im Lokalen, oft gegen die Polizei.

Die Idee, diese Kampfbereitschaft für politische Ziele zu nutzen, entstand, als es bei einem Spiel des Tunesien-Cups 1999 zu einem Gewaltausbruch mit vielen Verletzten und mehreren Toten kam. Die Taks erkannten schnell die Vorteile einer Zusammenarbeit mit den "Ultras", wie die extremsten Fußballfans genannt werden.

Über mehrere Saisons baute SuX ein Webforum für Ultras verschiedener Mannschaften auf. Eine speziell nordafrikanische Sorte von Ultras mit eher politischem Charakter verbreitete sich rasch unter der fußballverrückten Jugend Tunesiens und darüber hinaus in Ägypten, Algerien, Libyen und Marokko. Als die Revolution begann, spielten die Ultras ein ganz neues Spiel: Sie wurden so etwas wie die schnelle Eingreiftruppe der Protestbewegung.

Was letztlich zum Sturz Ben Alis führte, hatte eine lange Vorgeschichte: Schon im Jahr 2008 kam es in der Bergbau-Region Tunesiens, nahe der Stadt Gafsa, über Monate hinweg zu Protesten gegen Korruption und schlechte Arbeitsbedingungen. Auf ihrem Höhepunkt schossen Polizeikräfte scharf auf die Demonstranten; einer von ihnen wurde getötet, 26 verletzt, es gab Hunderte Verhaftungen. Die Unruhen blieben jedoch örtlich begrenzt, zum großen Teil, weil die Sicherheitskräfte das Gebiet von der Außenwelt isolierten.