Die Technik des Aufstands

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Am 30. Dezember starb ein Demonstrant, der sechs Tage zuvor von der Polizei angeschossen worden war. Rechtsanwälte protestierten gegen die Regierung, mit Beginn des neuen Studienjahres flammten Studentenproteste auf. Auf den Gleisen der Stadtbahn von Tunis versammelte sich ein "Flash Mob", eine Menschenmenge, die sich spontan über Internet und Handy an diesem Ort verabredet hatte. Die Teilnehmer bedeckten ihre Münder und standen einfach da, eine schweigende Anklage. Am 4. Januar starb Bouazizi an seinen Verbrennungen. Zur Beerdigung am nächsten Tag kamen 5000 Menschen.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Nach weiteren Verhaftungen prominenter und unbekannter Regimegegner und weiteren Streiks wurden im Januar Dutzende Menschen bei Protesten getötet, die meisten davon im armen Landesinneren; Zeugen berichteten vom Einsatz von Heckenschützen. Die Toten sollten aus den Protesten eine echte Revolution machen. Eine große Rolle dabei spielte auch ein höchst verstörendes Video. Es wurde im Krankenhaus der Stadt Kasserine gefilmt und zeigt unter anderem einen toten jungen Mann mit herausquellendem Gehirn.

"Dieses Video war für die zweite Hälfte der Revolution ausschlaggebend", sagt Foetus. Hunderte Male immer wieder auf unterschiedlichen Seiten bei YouTube, Facebook und anderswo veröffentlicht, löste es eine Welle von Abscheu in ganz Nordafrika und Nahost aus. Aufgenommen wurde es laut Foetus von einem Medizinstudenten – Ärzte hätten versucht, ihm das Filmen zu verbieten, aber er habe einfach gesagt "Fickt euch" und weitergemacht. Weil der Internetzugang in Sidi Bouzid gesperrt war, schmuggelte Takriz das Video über die algerische Grenze und verbreitete es über den Dienst MegaUpload. Foetus leitete es an den Fernsehsender Al-Jazeera weiter.

Al-Jazeera sendet für ein weltweites Publikum, darunter Menschen, die Facebook nicht erreicht: Arme, Ungebildete und Alte. Der Tunesien-Korrespondent des Senders erinnert sich, wie er live aus seinem Haus sendete, "während mich davor die Polizei daran hinderte, rauszugehen und über die Ereignisse zu berichten". Seiner Ansicht nach hat sich Al-Jazeera einen Wettbewerbsvorteil verschafft, indem der Sender "reichhaltige Quellen" wie Facebook und andere Sozialmedien nutzte.

"Facebook war so etwas wie das Navigationssystem für diese Revolution", sagt dazu Foetus. "Ohne die Straße gibt es keine Revolution, aber wenn man Facebook dazunimmt, bekommt man echtes Potenzial."

Auf der Straße war die Revolution mittlerweile unübersehbar real. Dutzende starben dort, und Hunderte wurden verletzt, darunter auch erfahrene Taks und Ultras. "Es gab diese älteren Leute, die jeden Tag eine halbe Stunde lang friedlich protestierten. Dann kamen die Tränengasgranaten, und sie gingen nach Hause", sagt Foetus. Aber die Takriz-Leute blieben da: Sie wussten, dass Ben Ali weg muss, "sonst sind wir tot".

Am 13. Januar versuchte der Präsident noch einmal, seinen Posten wenigstens vorübergehend zu retten. In einem Dialekt statt in offiziellem Arabisch äußerte er "sehr, sehr tiefes und heftiges Bedauern" über die Leute, die sein Regime getötet hatte, und versprach, 2014 zurückzutreten. Die Opposition hieß das Angebot vorsichtig willkommen. Aber dem Volk reichte es nicht. Am nächsten Tag versammelte sich in Tunis eine große Menschenmenge. Takriz wollte mit ihnen das Innenministerium stürmen, aber als das Tränengas kam, zogen sich viele Protestierer zurück. Ein paar Hundert Taks und Ultras demonstrierten weiter, aber ohne Erfolg. "TAK Kram", eine besonders harte Ultra-Gruppe, sonderte sich ab und zog zum Präsidentenpalast – aber Ben Ali war schon nach Saudi-Arabien geflohen.

2000 Kilometer weiter östlich, in Alexandria, war Hassan Mostafa "hysterisch glücklich", als er von der Flucht Ben Alis hörte. "Ben Ali weg. Eine Chance", schrieb er per SMS an einige hartgesottene Kriminelle – "Mörder und Drogendealer" –, die er getroffen hatte, als er wegen seiner Aktionen nach dem Tod von Khaled Said im Gefängnis saß. Mithilfe seiner ehemaligen Mitgefangenen stellte Mostafa eine kleine Armee von harten Typen aus den ärmsten Gegenden zusammen. Die Stadt Alexandria "ist wie eine Kobra", sagt er, "Mubarak hatte schon immer Angst vor uns."

Mostafa ist sich sicher, dass Technik eine entscheidende Rolle gespielt hat. "Früher stand jeder ganz allein", sagt er, "aber soziale Medien haben Brücken geschaffen, Kanäle zwischen Einzelnen, zwischen Aktivisten, sogar zwischen ganz gewöhnlichen Leuten. Mit ihnen können sie ihre Stimme erheben und erfahren, dass es noch andere gibt, die denken wie sie."