4W

Was war. Was wird. Die Jahresanfang-Edition.

Während es über den Krüppelwalmdächern der norddeutschen Tiefebene knallt und kracht, wälzt Hal Faber zu später Stunde noch Statistiken und wagt einen Ausblick auf 2012.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 80 Kommentare lesen
Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich – auch in der Neujahrsnacht.

Was war.

*** Frohes neues Jahr! Frohes Turing-Jahr! Wer erinnert sich nicht an die großartige Szene in der Odyssee, als ein Affe seinen Knochen in die Luft schleudert und die Hörner und Streicher ein Kommunikationsprotokoll untereinander aushandeln, um dann in den Walzer zu rauschen, der zum Neujahr gehört wie besagter Affe zum schwarzen Stein. Ein wunderbares 2012 liegt vor uns und doch geht der Blick zurück, denn dieses WWWW ist auch das traditionelle Jahresend-WWWW, mit Rückblick, Ausblick und etwas Statistik.

*** Beginnen wir mit der Statistik, den beinharten, ach so objektiven Zahlen. Für die Regulars des Heise-Forums, die auf die Top-News gerne wetten, halten die Zahlen diesmal eine kleine Überraschung bereit: Die hoch favorisierte Nachricht von der Existenz eines Staatstrojaners brachte es auf 1.131.503 Zugriffe und damit nur auf Platz 2 der Top Ten des abgelaufenen Jahres. Sieger über alles wurde diese Meldung über europäische Razzien beim Filmportal kino.to mit 1.261.236 Zugriffen. So leicht kann man sich irren im subjektiven Urteil über die Bedeutung einer Nachricht. Immerhin: die Entdeckung des Staatstrojaners und die nachfolgenden Meldungen und Dementi sorgten dafür, dass das Thema in der Addition der Meldungen ebenfalls auf Platz 2 kam. In der Summe wurden diese Meldungen indes haushoch von einem Thema geschlagen, das wirklich niemand auf der Agenda hatte: jede einzelne Meldung zu den Ereignissen in Japan nach dieser ersten Meldung mit dem elffachen Update (auch ein Rekord) brachte es auf über 900.000 Zugriffe an einem Tag. Vielen Heise-Lesern wurde bewusst, wie verletzlich das Leben der Menschen auf dem Planeten Erde ist. Die Kommentare in den sechs Top-Meldungen über Japan über die Unwägbarkeiten waren deutlich. Vielleicht wird die hastig vollzogene Energiewende der Regierung Merkel mit all ihren Widersprüchen einmal als größte Tat der ersten deutschen Bundeskanzlerin gelten. Verglichen mit den Zahlen zur Nachricht vom Tod eines immer noch bekannten Rechtsanwaltes mögen die Zahlen in diesem Jahr bescheiden sein, wie unschwer anhand des letzten Jahresrückblicks errechnet werden kann. Sie bleibt der unangefochtene Spitzenreiter aller Meldungen seit Beginn der Heise-News. Nehmen wir es in diesem Turing-Jahr als Mahnung an alle, wenn das Scheitern eines sehr intelligenten Menschen als Außenseiter solch einen AllTimeHigh-Wert ergibt.

*** Kino.to, Staatstrojaner und die Ereignisse in Japan ließen nur wenig Platz für andere Meldungen, unter die Top Ten zu kommen: Auf den achten Platz schaffte es die Meldung von der Rundfunk-Haushaltsabgabe, die sich damit zu den vielen GEZ-Meldungen gesellt, die in der Statistik über alle Jahre hinweg stets vordere Plätze belegten. Platz 9 enterten die Piraten mit dem Berliner Abgeordnetenhaus. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den 10. Platz lieferten sich die Nachrichten über die Spyware bei Electronic Arts und das Aus für Tablets und Notebooks bei HP. HP verlor, wie diese Firma mit ihrem misslungenen Revirement wohl ungern auf den entscheidenden Moment in der Geschichte zurückblicken dürfte. Insgesamt kam HP mit vielen Meldungen und Tablet-Gerüchten auf Platz 3 der Firmenwertung, knapp vor Facebook. Das es in dieser Kategorie Apple auch 2011 nicht schaffte, Microsoft zu überholen, ist allein den Nachrichten aus dem Mobilsektor geschuldet, als Nokia sich mit Microsoft verbandelte – oder umgekehrt.

*** Zoomt man aus diesem Zahlenbild heraus, so zeigen sich noch andere Tendenzen. Die Zeiten, in denen eine Nachricht über Windows 7 die Charts stürmen konnte, sind endgültig vorbei. Nachrichten wie die vom Build von Windows 8 kommen zwar noch in die Top 100, schaffen es aber nicht mehr auf die vorderen Plätze. Das Interesse der Newsticker-Leser hat sich offenbar gewandelt: Jede Meldung zum IT-Fachkräftemangel oder zur Qualifikation von IT-Spezialisten kam unter die Top 50. Als Absteiger des Jahres mag der "digitale Radiergummi" gelten, der von Verbraucherministerin Aigner gelobt und von Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger abgelehnt wurde. Sein Start schaffte es auf Platz 97 der Top 100, nachdem der Höchste Datenschutz made in Germany recht einfach ausgehebelt werden konnte. Noch drastischer der Abstieg von Wikileaks-Nachrichten oder Berichten über Wikileaks-Gründer Julian Assange. Gehörten die Whistleblower und ihre Taten im Jahr 2010 zu den absoluten Rennern, schaffte keine einzige Meldung den Sprung in die Top 100. Das gilt auch für Openleaks und Globaleaks.

*** An den Zugriffszahlen gemessen war 2011 das Jahr der Abschiede. Top-Meldungen waren der Abschied von der Glühbirne, der Abschied vom PC-BIOS, der Abschied von Windows XP und, all diese Zahlen in die Ecke stellend, der lange Abschied von Steve Jobs. Mit ihm verlassen wir das Erbsenzählen. Eine Gründergeneration tritt ab, das gilt erst recht für die Pioniere wie Dennis Ritchie, John McCarthy, Paul Baran, Sidney Harman und Ken Olsen. Was bleibt, was uns auch noch im Jahre 2012 beschäftigen wird, ist ein Vermächtnis von Steve Jobs, der perfekte Geräte für unmündige Konsumenten wollte. Und das nicht erst seit iPod oder iPhone. Erinnert sei daran, dass es die ersten Erweiterungsslots in Apple-Rechnern nur gab, weil sein Partner Steve Wozniak sich quer legte. Zum Jahresende hat Cory Doctorow die Entwicklung auf den Punkt gebracht: Der Computer als Universalgerät und das Programmieren als einfache Bedienung des Universalgerätes sind in Gefahr auszusterben. Das Abdrucken eines Listings in der c't führt dann postwendend zum Diebstahlsverdacht, weil geistiges Eigentum das Öl des 21. Jahrhunderts werden wird. Dass aber ausgerechnet die 3700 Hacker vom Chaos Computer Club die gesellschaftliche Macht hätten, diese Entwicklung aufzuhalten, ist eine alberne Vorstellung. Hier muss nach der gut verkorksten Energiewende eine Maschinenwende ansetzen.

Was wird.

Am Neujahr walzt nicht nur die schöne blaue Donau durch das All. Alles ist frisch und neu und feierlich gespannt. Prognosen gibt es an jeder Ecke wie Berliner (Pfannkuchen). Von der blauen Donau geht der Blick zu Big Blue, wo fünf Prognosen für fünf Jahre zu haben sind. Wobei die Prognose intelligenter Spam-Filter mindestens so albern ist wie dieser wulffige Glaube ans Glück im Eigenheim mit Krüppelwalmdach. Was Prognosen taugen, soll ein Blick ins Jahr 1962 zeigen. Damals feierte der IRE, der Vorläufer der großen IEEE seinen 50 Geburtstag und lud 50 namhafte Wissenschaftler ein, die Welt von 2012 in den Proceedings zu beschreiben. Der Zeitpunkt war nicht schlecht gewählt, denn die Computer befanden sich auf breiter Front im Druchbruch: IBM 1401, Univac Solid State 80/90, CDC 1604, Honeywell 800 und Bendix G-20 waren die Namen der Verkaufsschlager. Die studentischen Hacker am MIT schafften es, mit Spacewar auf einer PDP-1 das IT-Equipment zweckentfremdet einzusetzen, in Großbritannien wurde der virtuelle Arbeitsspeicher erfunden und IBM stellte mit der 1311 den Vorläufer der Festplatte vor, die ersten Laser-Experimente und Glasfaser zur optoelektronischen Übertragung wurden diskutiert. Wie stellten sich die Wissenschaftler das Jahr 2012 vor? Eine kleine Zusammenfassung:

Zeitungen werden 2012 nicht mehr ausgetragen, sondern über ein Kommunikationsnetz zu Lesegeräten verschickt, die "flüssiges Papier" enthalten. Fernsehbildschirme sind wandgroß und zeigen dreidimensionale Sendungen mit Raumklang-Stereophonie. Musik und Film oder TV wird laser-holografisch gespeichert. Wer krank ist, wird über telemedizinische Apparaturen zu Hause versorgt, wer gesund ist, arbeitet überwiegend als Wissensarbeiter in Telezentren. Medizinische Eingriffe erfolgen minimalinvasiv; es gibt eine reiche Auswahl an künstlichen Organen, die vom Körper nicht mehr abgestoßen werden. Autos fahren nicht mehr mit Verbrennungsmotor (weil das Öl alle ist), sondern mit Brennstoffzellen. Sie verständigen sich über ein eigenes Kommunikationssystem, das Bremslichter überflüssig macht und werden über ein Satelliten-Navigationssystem präzise über die Straßen gelenkt. Kinder gehen nicht mehr zur Schule, es gibt Lernmaschinen. Das gesamte Wissen der Welt ist elektronisch gespeichert und kann in jeder Stadtbibliothek abgerufen werden. Es gibt nur noch elektronische Wahlen und jede Form der Wahlfälschung ist unmöglich geworden.

Zur Kommunikation im Jahre 2012 fallen die Prognosen sehr unterschiedlich aus. Der Japaner Yasujiro Niwa sagte ein kleines Taschentelefon vorher, das jeder mit sich trägt und das via Satellit weltweit funktioniert. Der Amerikaner Dorman D. Israel prognostizierte eine kleine Sende/Empfangseinheit, die jedem Neugeborenen in das Nervensystem am Rückgrat eingepflanzt wird. "Logically enough, this operation must be performed within two weeks of birth because the infant is only slightly exposed to contacts with its famlily who still have not completed their 'unlearning' and readjustment, he might never become a good subject for the modern system of communications."

Schöne neue Welt? Aber ja doch: Der Staat selbst hat Bilder aller seiner Bürger gespeichert. Die automatische Gesichtserkennung hat 2012 den Fingerabdruck bei der Fahndung nach Straftätern abgelöst, der Fingerabdruck kommt nur noch bei Einkäufen zum Einsatz, da er die Kreditkarte abgelöst hat. Weil Häuser und Büros optisch und akustisch überwacht werden, tragen die Menschen Geräuscherzeuger mit sich, die einen Klangteppich erzeugen, in dem die Sprache untertauchen kann.

Computer spielen in vielen abgegebenen Prognosen eine wichtige Rolle. Jeder Mensch wird 2012 mit Computern arbeiten, sie werden per Sprachsteuerung bedient. Die internationale Verständigung ist kein Problem mehr, denn Computer übersetzen in Echtzeit zwischen den Sprachen. Sie gestatten auch die Kommunikation mit intelligenten Tieren wie den Delphinen. Mit Mini-Atomzellen bestückte Kleinstcomputer ersetzen bei Tauben als Cochlea-Implantat das Gehör. Computer werden nicht mehr konstruiert, sondern konstruieren sich wegen der fortschreitenden Miniaturisierung selbst. Ein internationales Netzwerk verbindet alle Computer und bildet das Knochengerüst der Mensch-Computer-Symbiose. "To us, the distinction between 'me' and 'my computer' would then be difficult to make" schrieb George L. Haller, Vizepräsident von General Electric, der auch die absolut präzise Wettervorhersage verwirklicht sah.

Gerade in Sachen Computer gab es 1962 auch warnende Stimmen: Ein weltweites Computernetz könnte auch eine Bedrohung für die Menschheit sein, wie eine Wasserstoffbombe. "It will have become accpeted knowledge that the chief threat to humanity will be the interconnected computer system. Science will have foretold that at some critical size and with self-programming abilities, a system of computers will acquire a consciousness of its own existence and a desire for its own enhancement."

Richtig gallig sah der ENIAC und UNIVAC-Konstrukteur John Presper Eckert in die Zukunft: "I hope we have solved the integration problems between the human races before we face the problem of integration with robots. Our real test probably lies beyond the next 50 years, however, when mankind has developed a self-reproducing automata which can improve itself!"

Ein ernsthafter Einwand und eine gruselige Aussicht? Wer liest, was ein Science-Fiction-Autor wie Cory Doctorow über den tapferen kleinen Toaster schreibt, fragt sich heute schon, wie verblödet wir morgen sein werden. In diesem Sinne schließt das Jahres-Ende-und-Anfang-WWWW mit artigen Neujahresgrüßen aus der norddeutschen Tiefebene an den Rest der Welt und einem allerletzten Zitat, aus einer etwas anderen Quelle, einer PDF-Datei beim Bundeskriminalamt: "Das soziale Kapital, das notwendig ist, um wehrhaft zu sein gegen Extremismen, Stereotypisierungen und Stigmatisierung, reproduziert sich nur innerhalb einer vitalen Zivilgesellschaft." In einer Gesellschaft, die ganz ohne implantierbare Rechner die Vertraulichkeit von IT-Systemen als Teil der Lebensführung ernst nimmt. (vbr)