Schöne neue Wirtschaftswelt

Die virtuelle Spielwelt Second Life wird von vielen unglaublich ernst genommen. Hier ist alles wie im richtigen Leben: Die Politik sorgt für Konflikte, und die Wirtschaft blüht.

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Fast könnte man meinen, hinter jedem zweiten Avatar in Second Life steckt ein Journalist. Zeit, FAZ und taz haben ihre Reporter ebenso schon in die künstliche Welt geschickt wie der Spiegel, bei dem sich gleich das halbe Kulturressort einschließlich Chef virtualisierte. Reuters hat sogar ein eigenes Büro dort, und Springer gibt ein Boulevardblatt heraus. Die Reporter hetzen den digitalen Trends hinterher, besuchen virtuelle Konzerte, Nobelboutiquen und die Niederlassungen von IBM, AMD oder Mercedes Benz. Dazwischen wird viel geflogen und geflirtet. So richtig verstanden, worum es bei Second Life geht, haben dann auch nur die Kollegen vom Titanic Magazin.

Auf der anderen Seite gibt es Leute, denen ist Geld wichtiger als Sex. Sie halten das Paralleluniversum für wirtschaftliches Neuland und schreiben Second Life ein unglaubliches Potenzial zu. Denn die virtuelle Währung der Scheinwelt lässt sich ganz real in harte Dollars tauschen. Damit sind schon ein paar Leute offenbar sehr, sehr reich geworden. Second Life wiederholt die Heilsversprechen der New Economy und hat auch die für einen richtigen Hype notwendige Börse. Der Handel mit Aktien nicht existenter Unternehmen funktioniert noch nicht so richtig, deshalb gibt es auch Schwarze Freitage. Aushängeschild dieses Kapitalismus 2.0 ist Ailin Gräf, die Second Life schon früh nicht nur als Spiel gesehen hat und inzwischen als Immobilien-Mogul Anshe Chung Millionen Linden-Dollars auf dem Konto hat.

Dieses unglaubliche Potenzial muss natürlich irgendwie erschlossen werden. Deshalb gab es jetzt den ersten Wettbewerb mit Geschäftsideen für die virtuelle Welt. Gewonnen hat das Projekt eines Beratungsunternehmens, das echten Firmen mit Marktforschung und Analysen helfen will, in Second Life gewinnbringend Fuß zu fassen und die Bewohner der Spielwelt zum Beispiel in echte Läden zu locken. Das Gewinnerteam bekommt jetzt eine eigene Insel und ein paar hunderttausend Linden-Dollar, um ihr virtuelles Office aufzuziehen. Es herrscht Goldgräberstimmung. Natürlich gibt es bei einem solchen Hype immer ein paar Spielverderber. Zum Beispiel Randolph Harrison. Der Wirtschaftsexperte vergleicht den Wirtschaftskreislauf von Second Life mit einem klassischen Pyramidensystem und erklärt damit einleuchtend, wie die virtuell ungeliebte Chung so reich werden konnte, die Nachahmung aber so schwer fällt. (vbr)