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Was war. Was wird.

Strukturwandel der Öffentlichkeit reloaded. Hal Faber schaut zurück und entdeckt Debatten, die man heute endlich wieder führen muss. Ach, Simplicissimus. Du hattest es einfach, und doch will niemand mit dir tauschen

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Grauer, nebeliger, kalter November. Kein Licht, nirgends. Auch Orangina streikt im schwarzgrauen Bällebad: Auf Twitter meucheln sich die Piraten, mit seltsamen Erklärungen in Nordrhein-Westfalen und noch seltsameren Entgegnungen aus der Berliner Szene, die nicht einmal über juristische Grundkenntnisse verfügt. Nein, keine Links, denn Depression wird hier nicht verbreitet, Hilfe sei nun eingeleitet. Wenn jede Tag Widerstand geleistet werden muss, wird es dem letzten Esel dämmern, dass er diesen Bullshit nicht fressen muss. Der etwas fiese Witz an der Geschichte: Piratenwähler lesen ständig genau das mit, was da getwittert wird. Die achsobösen "Medien" feixen laut, die Reparaturversuche zerren hilflos ein Kamel durch ein Nadelöhr.

*** Und die Hilfe? Ganz ohne die bewusstseinswerweiternden Mittel, die Teilnehmer auf dem IT-Gipfel der Regierung eingeworfen hatten, als sie "Industrie 4.0" beklatschten, sich allesamt als kleine Krupps imaginierend. Ganz ohne die erzieherischen Mittel unserer Musikindustrie, die Ohrfeigen bereithält, nach dem bekannten Motto: "Wer hören will, muss fühlen."

*** Ja, es gibt Lichtblicke. Dazu klettern wir erst einmal tief in die Vergangenheit: Vor genau 50 Jahren endete die Ära Adenauer endgültig. Damals traten fünf redliche FDP-Minister zurück, nachdem der Spiegel einen Artikel mit dem Titel Bedingt abwehrbereit veröffentlichte. Sie erzwangen damit den Rücktritt des CSU-Politikers Franz-Josef Strauß. Aus heutiger Sicht wird über die Ereignisse frei extemporiert und von der Presse als vierter Gewalt phantasiert. Damals schaute das Ausland auf das aufgeregte Westdeutschland und fand, dass die junge Demokratie den Bewährungstest bestanden habe. Der Verfassungsschutz, von den Allierten gegründet, um nationalsozialistische Umsturzversuche zu enttarnen, könnte abgeschafft werden. Die Forderung von 1962 kann 2012 ohne Bedenken wiederholt werden, allem GETZ-Getue zum Trotz.

*** Aus heutiger Sicht ist schon der Blick 10 Jahre zurück ganz aufschlussreich. Er fällt auf eine bald nicht mehr existierende Frankfurter Rundschau, in der Roderich Reifenrath den Artikel Schlamm aufwühlen veröffentlichte. Heute liest sich die Klage, dass investigativer Journalismus nicht mehr bezahlbar ist, wie eine Vorwegnahme der Ideen hinter Wikileaks. In dieser Woche startete der selbstdeklarierte Wikileaks-Nachfolger Shofarleaks als sichere Plattform für Whistleblower. Wie sicher die seltsam altertümlich anmutende Webpräsenz, auf der der Shofar zu G^ttes Ehren geblasen wird, muss die Zukunft zeigen. Die Möglichkeit besteht, dass Shofarleaks ein Puzzlestückchen aus dem ausgebrochenen "Internet-Krieg" ist.

*** Im hier und heute erinnerte übrigens Oskar Negt daran, dass im November 1962 ein Buch erschien, das heute wichtiger ist denn je. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit erzählt die Geschichte, wie die bürgerliche Öffentlichkeit enstand, wie Öffentlichkeit und Privatsphäre sich auseinander differenzierten, wie bei deutschen Tischgesellschaften, in den französischen Salons und in den englischen Coffee Houses diskutiert und geurteilt wurde. In diesen Zirkeln diskutierte die bürgerliche Öffentlichkeit mit sich selbst. Später wandelte sich das Bild: Aus der aktiven Öffentlichkeit entstand die konsumierende Öffentlichkeit, in der Massenmedien die Debatten transportierten. In dem Maße, in dem Werbung und Unterhaltung diesen "Diskurs" prägten, verflachten die Themen. Der Niedergang der Öffentlichkeit ging einher mit der Konsumgesellschaft. Ende der Debatte.

*** Heute gibt es Ende 2.0: In Blogs und selbst im Rudimentärmedium Twitter konstituiert sich eine neue Öffentlichkeit und versucht sich am Diskurs, auch wenn es furchtbare Unfälle gibt, wie oben angedeutet. Die Rolle der Gatekeeper funktioniert nicht mehr, selbst ein Medium wie Twitter funktioniert mehr nach den Brechungsgesetzen der Optik denn nach simplen Informationsflüssen. Die neue Öffentlichkeit braucht Journalismus, aber nicht mehr die klassische Zeitung, die nur noch zu einer beleidigten Reaktion fähig ist: "Wer für guten Journalismus nicht gutes Geld ausgeben will, liefert sich dem Kommerz und den Suchmaschinen aus, die gierig sind auf unsere Daten. Und wenn die letzte anständige Zeitung verschwunden ist, bleibt nur noch das Geschwätz." Hallo? Die letzte anständige Zeitung muss nicht auf totem Holz erscheinen. Ob dabei unbedingt die Frankfurter Rundschau zur Huffington Post gemacht werden muss, ist eine andere Frage.

*** Aufschlussreich ist es schon, wie sich die neue Öffentlichkeit langsamschneckisch ihren Weg bahnt. Wenn Steve Ballmer in Deutschland mit den Schlaumäusen auftritt und dabei die Verleger versetzt, mag das mit Terminproblemen zu tun haben. Eine abzusegnende Frageliste hat Ballmer nicht nötig, das ist aus vielen Interviews mit ihm bekannt. So bleibt es schwer symbolisch, wenn der Bericht über Ballmers Nichterscheinen mit "Opa kaputt" eines "Touchscreen-erfahrenen" Kindes endet. Der Blick in die Glaserei-Kugel bringt es mit einem Klick auf den Punkt: Es wird eine Weltsprache entstehen, die nicht weit von der Gebärdensprache entfernt ist. Natürlich kann man auch ganz einfach vom Strukturwandel 2.0 reden oder wahlweise davon, dass jeder Medium ist oder eine Massage.

Was wird.

Es ist nach Mitternacht, die Glocken sind zu hören, die Mundharmonika röhrt und der FoeBuD feiert seinen 25. Geburtstag. FoeBuD? Aus dem "Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e. V." ist nunmehr Digitalcourage geworden. So soll eine größere Öffentlichkeit erreicht werden. Der alte Name war wohl zu pythonesk für eine junge Truppe, die sich "für eine lebenswerte digital vernetzte Welt" einsetzt. In die Trauer über das schöne Bild vom unbewegten Datenverkehr – motionless data – mit Anklängen an die Shinden Fudo Ryû Dakentaijutsu (Schule des unbewegten Herzens) mischen sich Wünsche, dass die Digitalcourage den Blick auf das ganz Andere fortsetzt, den Datenverkehr für eine lebenswerte Welt. Und schlecht ist es ja nicht, wenn an Grimmelshausens Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courasche erinnert wird, wo es im "Abstract" zum Traktätlein heißt: Demnach die Zigeunerin Courasche aus Simplicissimi Lebensbeschreibung vernimmt, dass er ihrer mit schlechtem Lob gedenkt, wird sie dermaßen über ihn erbittern, dass sie ihm zu Spott, sich selbst aber zu eigner Schand – worum sie sich aber wenig bekümmert, weil sie allererst unter Zigeunern aller Ehr und Tugend selbst abgesagt – ihren ganzen liederlich geführten Lebenslauf an Tag gibt, um gedachten Simplicissimum vor der ganzen Welt zu Schanden zu machen, weil er kein Abscheuen getragen, sich mit so einer leichten Vettel zu besudeln, wie sie sich eine zu sein bekennet - auch in Wahrheit eine gewesen - und er noch dazu sich seiner Leichtfertigkeit und Bosheit berühmet, in Maßen daraus zu schließen, dass Gaul als Gurr, Bub als Hur und kein Teil um ein Haar besser sei als das Andere. Reibet ihm daneben trefflich ein, wie meisterlich sie ihn hingegen bezahlt und betrogen habe. Jedwede Ähnlichkeit mit Personen aus der Great American Comedy um "4S Petraeus" ist zufällig.

*** Petraeus, Broadwell, Kelley, Allen – das eigentlich Sensationelle an diesem bizarren Reigen ist die Tatsache, dass die Geschichte nicht früher aufgeflogen ist. Über 30.000 Mails und Dokumente soll es von den Techtelmechteln geben, doch die panoptischen Systeme, die Super-Datenbanken und -Crawler von NSA und CIA schlugen keinen Alarm. Erst als ein halbnackter ehemaliger FBI-Agent die Sache meldete, begannen die Recherchen. Entweder wurde das Rumgemache bewusst ignoriert wie weiland Eisenhowers Geliebte, oder die Systeme sind schlechter als gedacht und Big Brother ist ein Scheinriese. Was in den USA wiederum eine prima Gelegenheit ist, als Geschäftsidee eine spezialisierte Beischlaf-Suchmaschine wie Enigma anzubieten, benannt nach einem berühmten militärischen Vorbild. (jk)