Automatisierte Rekonstruktion von Stasi-Akten startet

Das elektronische HighTech-Puzzeln in der Vergangenheit kann jetzt beginnen: In Berlin fiel heute der Startschuss zur automatisierten Rekonstruktion von Stasiakten.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 159 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Richard Sietmann

Der Fall der Mauer liegt inzwischen mehr als eine halbe Generation zurück, doch allem Anschein nach wird sich noch mehr als eine Generation mit den Hinterlassenschaften des DDR-Regimes beschäftigen können. Nach der Wende im Herbst 1989 hatte das Ministerium für Staatssicherheit mit der Vernichtung geheimer Unterlagen begonnen. Doch durch die mutige Besetzung von Stasi-Dienststellen im Dezember 1989 konnten Bürgerrechtler einen beträchtlichen Teil des Aktengutes vor der Vernichtung bewahren, und so blieben auch 16.250 Säcke voller Papierschnipsel aus schätzungsweise 45 Millionen in je acht bis 30 Teile von Hand zerlegten DIN-A4-Seiten erhalten.

Quelle: Fraunhofer IPK

Das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK), das sich 2003 mit einer Machbarkeitsstudie zur automatisierten Rekonstruktion dieser zerstörten Akten beworben hatte, kann nun ans Werk gehen: Nach der Mittelfreigabe von 6,3 Millionen Euro durch den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages erhielt es von der Bundesbehörde für die Unterlagen des Staatssichereitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) den Auftrag, in einem Pilotprojekt in den nächsten zwei Jahren zunächst 400 Säcke zu bearbeiten.

Bei dem elektronischen Puzzle-Spiel werden im ersten Schritt die Schnipsel beidseitig unter Einsatz eines Hochleistungsscanners digitalisiert; dazu müssen die Relikte für das Document-Feeding zuvor in Folien eingebracht werden, damit sie zur Beförderung auf Transportbändern geeignet sind. Den Scanprozess übernimmt die zur Bertelsmann AG gehörende arvato direct services GmbH. Im zweiten Schritt erfolgt die Merkmalsextraktion und Analyse von Eigenschaften wie der äußeren Form, Farbe, Textur sowie der kontextbezogenen Besonderheiten wie Abbildungen oder Schriften auf den Puzzlestücken. Zur Vereinfachung der automatischen Rekonstruktion anhand der extrahierten Merkmale werden dann zwecks "Suchraumreduktion" immer kleinere virtuelle Haufen aus ähnlichen Stücken gebildet, sodass die Suche nach passenden Stücken sich auf Fragmente in Untergruppen ähnlicher Farbe oder Beschriftung beschränken kann.

Werden passende Schnipsel gefunden, so fasst der Algorithmus diese zu einem größeren Teil des Dokumentes zusammen, berechnet erneut die Merkmale des zusammengesetzten Stückes und berücksichtigt es als neuen Schnipsel in der weiteren Rekonstruktion, bis daraus schließlich ein vollständiges Dokument entsteht. Etwa 80 bis 90 Prozent der Bruchstücke lassen sich auf diese Weise maschinell zusammenfügen, der Rest bedarf der manuellen Nachbearbeitung am Bildschirm. An interaktiven Nachbearbeitungsplätzen können die Ergebnisse begutachtet und gegebenenfalls korrigiert werden, indem die als falsch begutachteten Zusammensetzungen wieder in ihre digitalen Ausgangsbestandteile zerlegt und in die virtuelle Rekonstruktion zurückgegeben werden.

Der Sinn des Unterfangens erschließt sich freilich nicht jedem. Wohl deshalb hatte der Bundestag denn auch lange gezögert, die Mittel freizugeben – die ersten Anträge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Finanzierung des Projektes datieren aus dem Jahr 2000 (BT-Drucksache 14/3770). "Zehn Jahre haben wir auf diesen Tag gewartet", bekannte IPK-Abteilungsleiter Bertram Nickolaj heute in Berlin. "Da hat der forschungspolitische Aufbruch in der Großen Koalition schon sehr geholfen", ergänzte der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch, der sich als Mitglied des Haushaltsausschusses für das Projekt stark gemacht hatte.

Willsch, der zugleich dem Senat der Fraunhofer-Gesellschaft angehört, sieht in dem Vorhaben die "große Chance, die Öffentlichkeit wieder für die Geschichte der SED-Diktatur zu sensibilisieren". Es müsse verhindert werden, "dass ein Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Geschichte des SED-Unrechtsstaates gezogen wird", erklärte er heute beim offiziellen Startschuss für das Pilotprojekt. "Wir dürfen es auch in Zukunft nicht zulassen, dass der Täterschutz in unserem Land im Zusammenhang mit dem Unrecht der DDR-Organe vor dem Opferschutz steht." Er hofft nun, "dass sich an die Pilotphase die Betriebsphase anschließen wird". Die Gesamtkosten bezifferte der Abgeordnete auf "unter 30 Millionen Euro". Rund vier bis fünf weitere Jahre, so war heute zu erfahren, sind im Anschluss an die Pilotphase für die Rekonstruktion der Akten aus den restlichen Säcken veranschlagt. (Richard Sietmann) / (anw)