Deutsche Parteien experimentieren im Netz

Parteien in Deutschland seien im Internet noch in der Experimentierphase, meint Jan-Hinrik Schmidt vom Hans-Bredow-Institut. Und während manche Politiker die digitale Meinungsmacht nicht sehr hoch einschätzen, zeichnen Werbeprofis ein anderes Bild.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 45 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Jan-Henrik Petermann
  • dpa

Das Internet wird nach dem Vorbild der USA auch in Deutschland zunehmend gezielt als Wahlkampf-Plattform eingesetzt. Das sagt Kommunikationsforscher Jan-Hinrik Schmidt in einem Gespräch mit dpa. "Die Versuche sind da. Insgesamt muss man aber sagen, dass die meisten Parteien noch in der Experimentierphase sind", sagte der 35-Jährige, der am Hamburger Hans-Bredow-Institut für Medienforschung als wissenschaftlicher Referent arbeitet.

"Neue Initiativen wie die Video-Botschaft der Kanzlerin oder die Weblogs der SPD in mehreren Bundesländern deuten darauf hin, dass die Nachfrage nach 'Netzpolitik' auch bei uns steigt", erklärte Schmidt. Auf absehbare Zeit dürften Online-Wahlkämpfe jedoch keinen so großen Stellenwert haben wie etwa in den USA. "In der Bundesrepublik ist die Personalisierung noch nicht so stark. Hier stehen die Parteien und ihre Programme weiterhin im Zentrum", meinte der Soziologe und ergänzt: "Die überregionale Printpresse bleibt trotz aller Probleme stark. Vielleicht ist das Bedürfnis nach Alternativ-Öffentlichkeiten deshalb niedriger als anderswo."

Nur ansatzweise stelle die Blogger-Szene einen "Gegenpol" zu den Angeboten der Massenmedien dar. "Die Debattenkultur bleibt aber in hohem Maß von den etablierten Formaten abhängig." Schmidt zufolge greifen professionelle Journalisten und Wahlkampf-Manager gleichermaßen auf Weblog-Inhalte zurück. "Zumindest ein Teil der Macht, Themen zu setzen, verschiebt sich so ins Netz." Eine zunehmend wichtigere Rolle in der politischen Mobilisierung spielten überdies interaktive soziale Netzwerke im Internet (Social Networks). Wenn bekannt sei, dass ein Politiker eine eigene Gruppe zum Beispiel beim Internetportal Facebook habe, könnten diese Mitglieder zu geringen Kosten angesprochen werden, sagte Schmidt.

Doch werden über das Internet nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen erreicht. "Hier wie dort gilt, dass vor allem junge, höher gebildete und internetaffine Menschen für Online-Wahlkämpfe zugänglicher sind", sagte der Wissenschaftler. "Wer andere Wählerschichten anspricht, muss sich weiter überlegen, wie er am besten auf die traditionellen Methoden setzen kann."

Unter Umständen könnten sich die neuen Strategien jedoch mehr als Fluch denn als Segen erweisen. "Es passiert schon häufiger, dass das Internet als politische Waffe eingesetzt wird", berichtete Schmidt. "Selbstproduzierte Videos, die auch beleidigend sein können, bündeln die Aufmerksamkeit stärker als alles andere." Daher wachse auch die Unsicherheit für die Kandidaten. "Jetzt muss ich noch stärker als früher damit rechnen, dass sich mein Gegner offen gegen mich wendet."

Immerhin: Einst als eigenwillige Exoten belächelt, könnten Blogger im Internet in einigen Jahren auch in Europa beim Kampf um politische Mehrheiten mitmischen. Die debattierfreudige Szene zum Beispiel könnte ausgehend von den USA bei wichtigen Wahlen auf beiden Seiten des Atlantiks künftig zum Zünglein an der Waage werden. Während manche Politiker die digitale Meinungsmacht noch nicht sehr hoch einschätzen, zeichnen Werbeprofis ein anderes Bild.

"Es ist möglich, dass wir in den USA schon 2012 solch einen Effekt feststellen", meint Igor Schwarzmann. Der Internet-Stratege bei der Düsseldorfer Kommunikationsagentur Pleon erwartet, dass am Internet interessierte Menschen bald auch hierzulande den politischen Schlagabtausch maßgeblich beeinflussen. "Mund-Propaganda und Spenden-Akquise über das Web werden immer wichtiger. Das ist Marketing wie aus dem Bilderbuch." Mit geringen Kosten und vergleichsweise wenig organisatorischem Aufwand ließen sich potenzielle Wähler besser erreichen – eine zusätzliche "Ressource", die manch ein Kandidat bisher sträflich ignoriert habe.

Auch die Wähler-Mobilisierung über Social Networks könne demnächst zu einer Überlebensfrage für die Kandidaten werden. "In Amerika dürfte es den Demokraten damit (im aktuellen Wahlkampf) gelingen, hunderttausende Jungwähler zu gewinnen. Bei uns ist diese Tendenz noch nicht so weit fortgeschritten", meint Schwarzmann. Unumstritten ist, dass Blogs nur einen Bruchteil der Wahlberechtigten erreichen. Diese Diagnose gilt auf jeden Fall für die Internet-Auftritte zwischen Nordsee und Alpen. "Deutsche Politiker lieben noch eher Plakatwände", schrieb die Zeit nach der jüngsten Hamburger Bürgerschaftswahl. Wegen der garantierten Wahlkampf-Finanzierung über die Parteiapparate seien deutsche Parteien nicht so sehr darauf angewiesen, im Internet um Spender zu buhlen.

Anders in den USA: Dort gehört das gezielte Einwerben von Spenden über das World Wide Web seit Langem zu den etablierten Strategien der politischen Öffentlichkeitsarbeit. So gab die digitale Unterstützer-Fraktion des ehemaligen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Ron Paul an, allein im vergangenen Oktober rund 4,2 Millionen US- Dollar an einem einzigen Tag im Internet eingetrieben zu haben. Nach Angaben der Paul-Anhänger war dies sogar "die höchste jemals erzielte Summe innerhalb von 24 Stunden" – eine kühne Behauptung, für die es allerdings keine unabhängige Bestätigung gibt.

Ob subversive Humorattacke oder Aufmischen der politischen Kultur: Auch wenn die Blogs bislang nur einen Bruchteil der Wahlberechtigten erreichen und der Umfang ihrer Meinungsmacht umstritten ist, sei die Kreativität der Polit-Blogger nicht zu unterschätzen. "Wer diese Leute nicht auf seinem Radar hat, der hat schon verloren", meint der Berliner Blogger und Journalist Ranty Islam. Ebenso falsch sei aber, die Szene zu überschätzen. (Jan-Henrik Petermann, dpa) / (jk)