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Was war. Was wird.

Die kleine Seejungfrau liebte den schönen Prinzen und unterzog sich für ihn einer schmerzhaften Wandlung. Wer sich heute in seiner angeborenen Haut fremd fühlt, trifft bei Geeks nicht nur auf Toleranz, wie Hal Faber ernüchtert feststellen muss.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Jeden Abend und jeden Morgen schwamm sie an die Wasseroberfläche und setzte sich auf einen kleinen Felsen in der Hoffnung, ihren geliebten Prinzen sehen zu können. Das beeindruckte den Besitzer der Carlsberg-Brauerei so, dass er ein Bildnis dieser Szene in Auftrag gab, bevor sich die Seejungfrau in einen Menschen verwandelte. Alle waren entzückt davon, besonders der Prinz, der sie sein kleines Findelkind nannte, und sie tanzte immer fort, obwohl es jedesmal, wenn ihr Fuß die Erde berührte, war, als ob sie auf scharfe Messer träte. Der Prinz sagte, daß sie immer bei ihm sein solle, und sie erhielt die Erlaubnis, vor seiner Thür auf einem Samtkissen zu schlafen. Er ließ ihr eine Männertracht machen, damit sie ihn zu Pferde begleiten könne.

*** Die kleine Seejungfrau liebte den schönen Menschenprinzen, sie ließ es nicht dabei bewenden, auf einem ollen Felsen zu hocken und auf ihn zu warten. Sie gab ihren Schwanz auf, doch bei der hormonellen Behandlung der Meerhexe verlor sie ihre Stimme und konnte sich dem Prinzen nicht erklären. Der homosexuelle Dichter Hans Christian Andersen schrieb die Geschichte von der kleinen Seejungfrau, als seine große Liebe Edvard Collin heiratete. Das Drama, dass ein Mann einen Mann liebt und ihm daraus unendliche Qualen erwachsen, dass er/sie darüber zungenlos schweigen muss, war das Lieblingsmärchen von Thomas Mann und vielen anderen, die ohne Coming-Out durchs Leben gingen.

*** Chelsea E. Manning geht den umgekehrten Weg. Zu einer 35 Jahren Haft verurteilt, wünscht sie sich eine Hormonbehandlung – in der Hoffnung, am Ende die Identität zu gewinnen, die sie seit ihrer Kindheit gefühlt hat. Ob dieser Wunsch in einem Militärgefängnis erfüllt werden kann, ist schwer zu sagen. Dass er respektiert werden muss, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, gerade unter Geeks und Nerds, die ihre unsterbliche Seele schon mal dem fliegenden Spaghettimonster widmen. Es ist es aber nicht. Ist es Toleranzmangel oder nur der Mangel an Informationen zum Thema? Es geht nicht ohne Witz und Häme und schnellstens ist das Thema bei den Unisex-Toiletten angelangt, die seit jeher die Norm in deutschen Haushalten sind. Das hat die mutige Whistleblowerin nicht verdient. Ihre gekreuzten gefesselten Hände werden mit der Schaustellung Jesus verglichen und gehen in die Kunstgeschichte ein.

*** Wir haben Wahlkampf, da wird auf allen Seiten schwer gehobelt und geklotzt. Mancher Wahlprüfstein wird aufgestellt oder umgeschmissen, die allgemeine Unübersichtlichkeit darf kein Faktencheck trüben. Die größten Wirbel lassen sich im Jahr 2013 immer noch mit Themen aus dem großen Reich sexueller Identitäten machen, wenn etwa die Alternative für Deutschland gegen die "Homo-Ehe" wettert. Ob da ein netzpolitisch fortschrittliches Programm helfen kann? Warum nicht gleich bei der FDP bleiben, die klar für die Homo-Ehe ist und ebenso klar dagegen gestimmt hat, ohne selbst einen Gesetzentwurf vorzulegen. In einem Punkt haben so unterschiedliche Menschen wie der Kriminalbeamte André Schulz und der IT-Journalist Jo Bager recht: In Wahlkampfzeiten müsste das Thema NSA, das uns alle angeht, das Thema Nummer Eins sein, noch vor dem Thema Sex. Es ist es nicht. Die Bespitzelung ist kein Aufreger wert. Systematisch wird vertuscht, verheimlicht und verniedlicht, vor allem von der noch amtierenden Bundesregierung. Die Antwort auf SPD-Fragen zum NSA-Skandal liest sich für die gemeine Öffentlichkeit so:

Die Bundesregierung ist nach sorgfältiger Abwägung zu der Auffassung gelangt, dass die Fragen 3, 10, 16, 26 bis 30, 31, 34 bis 36, 38, 42, 46, 47, 49, 55, 61, 63, 65, 76, 79, 85 und 96 aus Geheimhaltungsgründen ganz oder teilweise nicht in dem für die Öffentlichkeit einsehbaren Teil beantwortet werden können.

*** Welche Fragen tabu sind, kann hier nachgelesen werden. Ob die geheimen Antworten geheim bleiben oder ob ein Abgeordneter seinem Gewissen verpflichtet ist, müsste das Thema Nummer Zwei sein in dieser Wahlzeit. Es ist es nicht. Selbst auf Seite der Fragenden wird unerträglicher Quatsch präsentiert, wenn die Internet-Schatten-Ministerin tiefes technisches Unwissen kritisiert, aber selber als Konsequenz aus dem NSA-Skandal nur ihre Datenschutzeinstellungen bei Facebook ändern möchte. Immerhin soll das Bürgerrecht Netzneutralität gesetzlich verankert werden, auch wenn die Kandidatin Probleme hat, die Sache mit der Datendrosselung richtig zu erklären.

*** Begeben wir uns ins Neuland. Es ist nicht uninteressant, was die Wahlprogramme in leichter Sprache uns sagen. Bei den Piraten ist das Internet auf mehreren Seiten Thema, bei der CDU geht es kurz und bündig zu (PDF-Datei). "Manche Leute machen im Internet schlimme Sachen. Zum Beispiel: Sie klauen Bilder im Internet. Sie erzählen Lügen im Internet. Wer im Internet schlimme Sachen macht, muss bestraft werden." Sind Lügen und Bilderklau wirklich die einzigen Themen, die einfach zu verstehen und zu bestrafen sind?

*** Am 5. juni 2008 beschloss der Deutsche Bundestag als erstes Parlament eines großen Industriestaates, die ecuadurianische Initiative Yasuni ITT zu unterstützen. Auf seine Art und Weise beschloss Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel den Kampf gegen das Projekt aufzunehmen. Nun hat Niebel gewonnen: Ecuador stellt das Projekt ein, das international Aufsehen erregte. Dass sich viel zu wenig Geldgeber für den Regenwald-Deal gefunden haben, ist eine Seite der Medaille. Auf ihrer Rückseite müssten die zahlreichen Drohungen stehen, mit denen der 2006 gewählte Präsident Correa die Geberländer verschreckte, den Spießer Niebel inklusive. Nun lästert Correa über die von ihm nicht geliebten Tageszeitungen seines Landes, die sich für das Projekt engagierten, sie könnten doch ihre Papierformate einstellen, wenn sie die Umwelt schützen wollten. Das Land, in dessen Londoner Botschaft Julian Assange Zuflucht gefunden hat, hat eben wenig für die Meinungsfreiheit übrig. Whistleblower sollen künftig hart bestraft werden.

Was wird.

I have a dream: Vor 50 Jahren hielt Martin Luther King am 28. August beim Marsch nach Washington die berühmteste Rede der Welt. Ihre Sätze wurden von Politikern aller Art missbraucht. Der Traum von den Hügeln von Georgia, wo die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhändler zusammenkommen, ist ausgeträumt. Die USA haben einen schwarzen Präsidenten, der in seiner bisher besten Rede von einem Alptraum abseits der Hügel in den Städten erzählte: "Es gibt sehr wenige afroamerikanische Männer, die nicht selbst die Erfahrung gemacht haben, dass sie hörten, wie Autoschlösser verriegelt wurden, während sie auf der Straße liefen." Die schönste Antwort auf Kings Rede kam von Max Roach, ein Solo an den Trommeln, das in Deutschland nicht verfügbar ist. Why?

Es bleiben auch so genug Fragen übrig. In der IT-Szene etwa die Frage, wer der Nachfolger von Steve Ballmer wird. Der Mann, der mit den Entwicklern tanzte, wird bereits mit Gorbatschow verglichen, nur ohne Panzer und dem Roten Platz. Eine gute Frage stellt Thilo Weichert auf der Sommerakademie an der Kieler Förde: Wer hat Angst vor großen Daten? Um im Stil von Amazon zu antworten: Wer Big Brother liebt, wird auch Big Data lieben. (vbr)