Alle Eier in einen Korb
Japans Konzentration auf Tokio legt zwei Tendenzen bloß, die auch zur Atomkatastrophe in Fukushima geführt haben: Der Wahn der technischen Beherrschbarkeit und die fatalistische Gewöhnung an die Katastrophe.
- Martin Kölling
Japans Konzentration auf Tokio legt zwei Tendenzen bloß, die auch zur Atomkatastrophe in Fukushima geführt haben: Der Wahn der technischen Beherrschbarkeit und die fatalistische Gewöhnung an die Katastrophe.
Diese Woche lief mir eine Meldung über den Bildschirm, die mich erschaudern lässt: Die Unternehmen in den 23 Stadtbezirken Tokios haben einer amtlichen Statistik zufolge 20 Prozent des Mehrwerts der Japan AG geschaffen. Das sind 20 Prozent der Wertschöpfung auf 622 Quadratkilometern – oder anders gesagt 0,4 Prozent der Landesfläche. Auch wenn man bedenkt, dass die Produktion der Firmen vielleicht zum großen Teil ihren Hauptquartieren zugerechnet wurde, ist die Konzentration atemberaubend. Volkswirtschaftlich betrachtet ist diese Superkonzentration hypereffizient, wäre da nicht ein kleiner Haken: Keine Mega-City der Welt wird stärker von Katastrophen bedroht als Tokio.
Erdbeben, Tsunamis, Überschwemmungen, Taifune mit Windgeschwindigkeiten bis zu 250 Kilometern pro Stunde und Vulkanausbrüche – die japanische Hauptstadt lässt keine mögliche Naturkatastrophe aus. Und die Bedrohungen sind nicht abstrakt: Ein Seismologe prophezeit Tokio in den kommenden drei Jahren, mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit von einem Mega-Beben getroffen zu werden. Ein Vulkanologe sagt für den gleichen Zeitraum den Ausbruch des 100 Kilometer entfernten Nationalbergs Fuji voraus, der bei guter Sicht majestätisch am Horizont der Hauptstadt grüßt. Bei seinem letzten Ausbruch im Jahr 1707 wurde die Hauptstadtregion unter ein bis zwei Zentimetern Asche bedeckt. Aber damals gab es noch keine Handy-, Strom-, und Zugnetze, die durch den feinen vulkanischen Staub ausgeschaltet werden könnten.
Die Folgen eines Erdbebens oder eines Vulkanausbruchs will sich keiner plastisch ausmalen. Immerhin lässt ein Risiko-Ranking des Rückversicherers Munich Re aus dem Jahr 2006 für die Megacities dieser Welt das Ausmaß der Gefährdung erahnen. Der Großraum Tokio rangiert in der Studie mit 710 Punkten mit riesigem Abstand auf Rang 1, weil hier in einmaliger Form das Katastrophenquintett mit wirtschaftlicher Superkonzentration kombiniert wird. Die zweitplatzierte Agglomeration San Francisco kommt auf gerade mal 167 Krisenpunkte, London auf magere 30. Oder wie es ein Katastrophenexperte aus San Francisco vor etwa 20 Jahren bei einem Tokio-Besuch sagte (ich zitiere aus der Erinnerung): "Man hätte wohl kaum einen schlechteren Ort für eine Mega-City finden können als Tokio."
Doch warum stört das hier niemanden? Anstatt wirtschaftliche und politische Macht zu dezentralisieren, legen die Japaner selbst im Antlitz der Gefahr immer mehr Eier in den Korb. Die Pläne für die Verlagerung der politischen Hauptstadt wurden vor etwa zehn Jahren beerdigt. Jetzt will die Regierung Sonderwirtschaftszonen in den Städten einrichten, die noch mehr Unternehmen anlocken werden. Für mich als Wirtschaftsjournalist macht diese Konzentration das Leben einfach. Ich kann oft mehrere Pressekonferenzen von globalen Unternehmen an einem Tag wahrnehmen. Manchmal kann ich sie sogar zu Fuß abschreiten. Aber gleichzeitig sorge ich mich, dass sich dies irgendwann fürchterlich rächen wird. Selbst das – inzwischen überholte – Worst-Case-Szenario für ein Beben unter Tokio sagt Schäden von mehr als einem Viertel der nationalen Wirtschaftskraft voraus. Aber nun sind die Seismologen überzeugt, dass das Erdbeben stärker und die Schäden größer ausfallen könnten als bisher angenommen.
Meine Antwort auf das Warum: Japans Überkonzentration auf Tokio legt zwei Tendenzen bloß, die auch zur Atomkatastrophe in Fukushima geführt haben. Da ist zum einen der Wahn der technischen Beherrschbarkeit. Kein Land baut erdbebensichere Häuser als Japan. Und tatsächlich sind die wenigsten der Opfer des Mega-Erdbebens 2011 durch das Erdbeben gestorben, sondern durch den Riesen-Tsunami, der die am besten gegen Riesenwellen gesicherte Küste der Welt einfach überspült hat. Der Seismologe Katsuhiko Ishibashi warnt allerdings, dass ein richtig starkes Erdbeben mit Magnitude 8 oder mehr auch moderne Hochhäuser zusammenbrechen lassen könnte, von denen die Japaner bisher annehmen, dass sie absolut sicher sind – wie früher bei den Tsunami-Schutzwällen.
Der zweite Grund scheint mir eine fatalistische Akzeptanz von Katastrophen zu sein, mit der viele Menschen Ruhe und Seelenfrieden bewahren. Sie passieren halt, sagt die Lebenserfahrung der Japaner. Da kann man nichts machen. Also denkt man auch nicht groß darüber nach, sondern benimmt sich möglichst so als ob nichts wäre, erklärte mir eine Bekannte die Einstellung.
Meine Schlussfolgerung: Japans Beherrschungs- und Regelungswahn, sprich Sicherheitsbedürfnis und übergroße Risikobereitschaft, sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Meiner Auffassung nach ist Japan deshalb ein hochreguliertes, risikoaverses Land, weil die Menschen – jede Sekunde bedroht durch die Natur – wenigstens in den Lebensbereichen, die sie kontrollieren können, möglichst wenig dem Zufall überlassen und Risiken in ihrem Alltag möglichst eliminieren wollen. Interessanterweise koexistiert diese Kontrollwut des Alltags mit dem Ausblenden großer Risiken und dem weitgehenden Verzicht, in Worst-Case-Szenarien zu denken. Sie sind halt gottergeben. Shoganai, da kann man nichts machen.
Dummerweise werden dabei Atomenergie und Naturkatastrophen bisher in die gleiche Kategorie eingeordnet, bei der man das Denken ausschaltet. Denn um die großen Risiken wahrnehmen zu können, müssten die Insulaner sie sich glasklar und bewusst vor Augen führen, was den Seelenfrieden und den Lebenswert nachhaltig stören würde – wie ich an mir selbst beobachten kann. Man muss die Gefahr rationalisieren, sich selbst in Sicherheit wiegen. Nur führte dieser Mechanismus dazu, dass das Land Gefahren riskiert, die anderswo auf der Welt nicht akzeptabel wären. Zum Beispiel Atomkraftwerke mit bis zu sieben Meilern in Erdbeben- und Tsunami-Zonen zu bauen. Oder Menschen und Unternehmen dazu zu drängen, noch mehr Unternehmen und Menschen nach Tokio zu locken.
Doch was klage ich: Ich bleibe ja auch da. (bsc)