Vor 80 Jahren: Start des öffentlichen Fernschreibwesens in Deutschland

Der Start des öffentlichen Fernschreibens in Deutschland, bei dem Teilnehmer selbst Fernschreiben aufsetzen und absenden bzw. empfangen konnten, bildete den Einstieg in die automatisierte Datenfernübertragung.

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Von
  • Detlef Borchers

Fernschreibmaschine mit Telefonanschluss, ca. 1930

(Bild: Bundesarchiv, Bild 183-2008-0516-500, Lizenz CC-BY-SA)

Heute vor 80 Jahren startete die Deutsche Reichspost auf der Strecke Berlin-Hamburg mit 13 Teilnehmern den Feldversuch eines Fernschreibsystems, bei dem die Teilnehmer selbst ein Fernschreiben aufsetzen und absenden bzw. empfangen konnten. Die vom Deutschamerikaner Eduard Ernst Kleinschmidt bei Teletype entwickelte Springschreibertechnik mit dem Start/Stop-Verfahren wurde in Lizenz von Lorenz übernommen. Sie schuf die Voraussetzung, dass Laien im Selbstwähldienst Fernschreiben absetzen konnten. Der Start des öffentlichen Fernschreibens in Deutschland bildete den Einstieg in die automatisierte Datenfernübertragung.

Zum Start des öffentlichen Fernschreibwesens gab es bereits zahlreiche geschlossene Fernschreibnetze, etwa das der Nachrichtenagenturen und Zeitungsverlage oder das firmeninterne Fernschreibernetz von Siemens & Halske mit ca. 130 Geräten in sechs Zentralen. Das größte örtliche Netz unterhielt die Berliner Polizei mit ca. 600 Fernschreibern, das größte Fernnetz betrieb die Kriminalpolizei mit ca. 1500 Fernschreibern zur reichsweiten Fahndung. Die Fernschreibnetze der Wehrmacht und Marine mit den "Geheimschreiber T52" von Siemens dürften noch größer gewesen sein. Bei all diesen Installationen sorgten indes ausgebildete Techniker dafür, dass Sende- und Empfangsschreiber richtig synchronisiert liefen und fütterten die Lochstreifenleser.

"Reroutendes Relay-Net"

Erst mit dem 1932 standardisierten Baudot Code ITA 2 und dem Start/Stop-Verfahren von Kleinschmidt als Voraussetzung für einen asynchronen Lauf der beteiligten Fernschreiber wurde eine weitgehend automatisierte Technik von Selbstwählern möglich. Die Ingenieure der Reichspost hatten sich zuvor öffentliche Fernschreibsysteme in England und den Niederlanden angesehen, bei denen man sich anrief und dann auf "Zuruf" in den Fernschreibmodus umschaltete. Das deutsche System sollte Tag und Nacht funktionieren, ohne menschliche Intervention und so einfach sein wie das Selbstwählsystem des Telefons, zum halben Preis eines Telefonats, bei großen Entfernungen noch weniger. Außerdem sollte ein Fernschreiben von Anfang an rechtssicher eine Unterschrift tragen, die im kaufmännischen Geschäftsleben bei Streitfällen vor Gericht anerkannt wird: Beim Aufbau einer Verbindung senden sowohl die angerufene wie die rufende Seite eine Kennung, üblicherweise ein Kürzel des Firmennamens. "Mit dem Fernschreiber lässt sich auch dem für die Tätigung wichtiger Abmachungen als misslich empfundenen Umstand abhelfen, dass der Fernsprecher keine schriftlichen Unterlagen gibt, sondern besonderer schriftlicher Bestätigung durch Brief oder Telegraphie bedarf", warb das Reichspostamt 1933 für den neuen Dienst.

Ab dem 1. Oktober 1933 wurde die Wechselstrom-Telegraphie auf dem Fernkabel zwischen Berlin und Hamburg gemessen und ausgetestet. 18 Verbindungen pro Leitung sollten zum Start des Teilnehmer-Testbetriebs möglich sein. Heute vor 80 Jahren starteten dann 21 Teilnehmer mit 64 Fernschreibern den Textversand im Feldversuch. Nach diesem sehr erfolgreichen Versuch zwischen den beiden Knotenämtern kam Dortmund am 14. Juli 1935 als nächstes Knotenamt hinzu, als der Echtbetrieb mit der Abrechnung der Fernschreiben gestartet wurde. Im Jahr darauf kamen Frankfurt/Main, Leipzig und Nürnberg hinzu.

Die olympischen Spiele wurden zum Motor der Fernschreibtechnik und vom Organisator Carl Diem als Beispiel deutscher Leistungskraft gefeiert. Alle Knotenämter waren damals direkt miteinander verbunden, damit bei Ausfall eines Amtes das Fernschreiben über andere Knoten wandern konnte. Die Idee des "reroutenden Relay-Net" mittels kopierender Springschreiblocher war nicht besonders deutsch, man übernahm sie vom Lizenzgeber Teletype. Zudem wurden in 28 Städten Vermittlungsämter installiert. Ein normales Fernschreiben quer durch Deutschland verlief so über das Vermittlungsamt in Kiel über das Knotenamt in Hamburg zum Knoten in Nürnberg zum Vermittlungsamt München und schließlich zum Teilnehmer.

Olympia und Pogrom-Nacht

Das Fernschreibwesen entwickelte schnell durch politische Übergriffe im Nationalsozialismus eine besondere Dynamik. 1936 wurden wegen der olympischen Spiele 200 zusätzliche Fernschreiber angeschlossen. 1937 war erstmals ein NSDAP-Mitglied Reichspostminister und sorgte dafür, dass alle Parteigliederungen der Nationalsozialisten Fernschreiber bekamen, die wie die Telefonanschlüsse der Partei auch in Notlagen nicht abgeschaltet werden durften. Als Reinhard Heydrich das berühmte Fernschreiben zum Verhalten in der Pogromnacht an alle Staatspolizeiposten verschickte, konnte die NDSAP ihre Dienststellen über das öffentliche Netz instruieren.

1943 wurde zur zehnjährigen Geburtstagsfeier der eintausendste Fernschreiberanschluss installiert und Post-Ministerialrat Feuerhahn jubelte in der "Deutschen Post": "So kann man hoffen, dass der Teilnehmer-Fernschreibdienst im Großdeutschen Reich ein treuer Helfer bei der Durchführung aller Notwendigkeiten des totalen Krieges sein wird." Zum Feiertag am 1. Oktober 1943 bekamen nur noch die Betriebe Fernschreibanlagen, die kriegswichtige Aufgaben nachweisen konnte. (Jüdischen Firmen waren bereits am 16. Dezember 1940 im Zuge des Telefonierverbots für Juden die Fernschreiber enteignet worden.) Als das Reich mit der per OKW-Fernschreiben verkündeten Kapitulation von Großadmiral Dönitz zusammenbrach, hatte das öffentliche deutsche Fernschreibnetz über 3000 Anschlüsse.

Frühe Überwachung

Unter den vier Siegermächten hatten die US-Amerikaner das beste Verhältnis zur Fernschreibtechnik. Im Jahre 1946 gestatteten sie die Wiederaufnahme des Dienstes bei der Polizei. 1947 kam die erste Genehmigung für das "public teletype" genannte System, doch mit einem Vorbehalt, wie ein damals Beteiligter von den Gesprächen berichtete: "Die Errichtung des Teilnehmer-Fernschreibwähldienstes hängt grundsätzlich auch von der rechtzeitigen Bereitstellung einer Überwachungseinrichtung ab." Diese wurde am neuen Zentralknoten Frankfurt/Main installiert und war nach einer Notiz in der "Zeitschrift für Post- und Fernmeldewesen" mindestens bis 1966 aktiv, mit Auswirkungen bis in die heutige Zeit: Als das Heinz Nixdorf Museumsforum beim Cipher Event den verschlüsselnden Fernschreiber Lorenz SZ42 einsetzte, musste man eine Ausnahmegenehmigung zum Fernschreiber-Kontrollgesetz der Allierten einholen, das offenbar unbefristet weiter Gültigkeit hat.

In Westdeutschland erlebte das Fernschreiben einen rasanten Aufstieg. Als die ITU im Jahre 1955 erste Zahlen erhob, waren in Westdeutschland 17.299 Geräte installiert. Nur in den USA hatte man mit über 36.000 Anschlüssen ein größeres System, weil dort Fernschreiber in den Produktionsprozess integriert wurden. Im Jahre 1962 hatte Westdeutschland allerdings die USA "überholt": 44.166 Fernschreiber ergaben rechnerisch 670 Teilnehmer auf 1 Million Einwohner, gegenüber 400 in den USA und 175 in Großbritannien.

Im Jahre 1964 stellte IBM die "perfekte Computerfamilie" vor, das System /360. Wichtige Bestandteile dieser Baureihe waren die Fernsteuereinheiten 2701 bzw. 2702 für Europa, die die direkte Kommunikation von Fernschreiber und Computer möglich machten. Der Fernschreiber wurde zum Fernterminal oder Ferndrucker. Jetzt war es möglich, per Fernschreiber direkt eine Datenbankabfrage abzusetzen, deren Antwort wiederum per Fernschreiber ausgedruckt wurde. Da kommerzielle Beispiele für diese Verschmelzung kaum noch zu finden sind, sei ein Exkurs in ein geschlossenes Fernschreibsystem erlaubt:

Personenfahndung

Eine Anleitung, um Fernschreiber direkt an die IBM 360/40 zu koppeln. So konnte man ohne Computerterminal Datenbank-Fahndungsabfragen erledigen.

Kommissar Computer trat in Westdeutschland erstmals seinen Dienst an, als die Datenzentrale Schleswig-Holstein mit der "Personen-Erkenntnis-Datei" (PED) der Polizei ab dem Jahre 1967 mit einer IBM /360-40 die Fernschreibfahndung realisierte. 60 Mann übertrugen 1,2 Millionen Fahndungs-Karteikarten in die Datei, die über Fernschreiber von allen Dienststellen abgefragt werden konnten. Das System ging am 26. Oktober 1970 online und erreichte schon am dritten Tag eine Auslastung von 4000 Abfragen bzw. Fahndungseintragungen täglich und war bald überlastet. "Die Polizeibeamten müssen lernen, wenn ihnen die DV-Anlage 295 Täter mit einer Übermittlungszeit von 20 Minuten anbietet, dass sie eine weitere Einengung durch zusätzliche Abfragewerte vornehmen müssen", drohte die verärgerte Zentrale aus Kiel in einem Rund-Fernschreiben.

Auf PED folgte bald das bundesweite System INPOL, mit dem das Bundeskriminalamt die Suche nach RAF-Mitgliedern betrieb. Die größte Panne des Systems war denn auch ein 1977 abgeschicktes Fernschreiben, das den Aufenthaltsort von Hanns Martin Schleyer nannte, aber nicht in die Datenbank des BKA eingepflegt wurde.

Vom Fernschreiber zum Teletex zum Telefax...

Mit Geräten wie dem Siemens T1000 und dem SEL LO2000 begann Mitte der 70er Jahre die kurze Ära der elektrischen Fernschreiber. Diese Geräte konkurrierten bald mit richtigen Terminals, die via DFÜ an Mainframes angeschlossen waren – und mit dem aufkommenden Personal Computer, der sich sehr schnell als Endgerät für den Telex-Verkehr im europäischen Gentex-Netz etablieren konnte. In Deutschland war es bis zur Wiedervereinigung 1989 verboten, PCs und PC-Drucker als Fernschreiberstation zu benutzen. Die Bundespost versuchte hier ab 1981 mit dem sogenannten "Bürofernschreiben" oder Teletex einen eigenen Standard zu schaffen, der gegen die aufkommende Nutzung von Telefax-Geräten chancenlos war.

Der Fernschreiber erlebte mit der Wiedervereinigung einen späten Höhepunkt in den Jahren 1989 bis 1992, weil im Gegensatz zu den knappen Telefonleitungen die Fernschreibverbindungen zwischen West- und Ostdeutschland gut ausgebaut waren. Auch die Betriebe der DDR hatten viele Geräte im Einsatz, die heute von Bastlern liebevoll gepflegt werden. Mitunter vergreifen sich aber noch Hacker an den Geräten und funktionieren die Steampunk-Kommunikatoren als SMS-Drucker um. (jk)