Bundesrat fordert umfassende Netzneutralität auf EU-Ebene

Die Länderkammer hat derart starke Bedenken gegen die Initiative der EU-Kommission für einen digitalen Binnenmarkt, dass sie dafür plädiert, den Entwurfs zurückzunehmen. Ein Stein des Anstoßes sind die Brüsseler Pläne zum offenen Internet.

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Der Bundesrat hat am Freitag eine ausführliche Stellungnahme verabschiedet, in der er kaum ein gutes Haar an der Initiative der EU-Kommission für einen digitalen Binnenmarkt lässt. Die Bedenken der Länderkammer sind so groß, dass sie dafür plädiert, den Verordnungsentwurf zur weiteren Harmonisierung der Regulierung von Telekommunikationsfirmen zurückzunehmen. Der Bundesrat empfiehlt stattdessen, "auf Basis einer intensiven Diskussion mit den Mitgliedsstaaten und den nationalen Regulierungsbehörden zu prüfen", wo und in welcher Form tatsächlich Reformbedarf besteht.

Ein Stein des Anstoßes sind die Vorschläge aus Brüssel für den Erhalt des offenen Internets. Laut der Kommission soll sich der Grundsatz der Netzneutralität nur auf den Zugang zum Datenraum beziehen, nicht jedoch auf die darüber vermittelten Angebote: Provider dürften so "Spezialdienste" mit garantierter Servicequalität anbieten, wenn dadurch Anschlussdienste nicht "substanziell beeinträchtigt" werden.

Der Länderkammer scheint dieser Ansatz "nicht geeignet", damit die Bürger gleichberechtigt und uneingeschränkt am offenen Internet teilhaben können. Sie meint, dass alle Datenpakete unabhängig von Inhalt, Anwendung, Herkunft und Ziel grundsätzlich gleich behandelt werden müssen. Abweichungen von diesem Prinzip sollten nur mit eng definierten Ausnahmen mit "objektiv überprüfbaren Kriterien" zulässig sein.

Ein solches Verständnis von Netzneutralität sei Voraussetzung für Innovation und einen funktionierenden Wettbewerb, führt der Bundesrat aus. Es bilde die Basis für die Meinungs-, Informations- und Unternehmensfreiheit sowie ein hohes Verbraucherschutzniveau. Der Plan der EU-Kommission führe dagegen zu einem "Verdrängungswettbewerb" der von Spezialdiensten beanspruchten hohen Übertragungsqualität mit den übrigen Inhalten, Diensten und Anwendungen des nach dem "Best-Effort-Prinzip" funktionierenden offenen Internets, in dem alle Datenpakete möglichst mit gleicher Priorität transportiert werden.

Die von der Kommission angestrebte Unterscheidung macht den Ländern zufolge auch Investitionen in den weiteren Breitbandausbau und das traditionelle Netz "wirtschaftlich unattraktiv". Sie könne zu einem Zwei-Klassen-Internet führen, was erhebliche Nachteile für die inhaltliche Vielfalt des Netzes mit sich bringe und "die Zukunft nichtkommerzieller, unabhängiger Informations- und Kommunikationsangebote" stark gefährde.

Der Bundesrat betont, dass bei Providerverträgen mit begrenztem Volumen bestimmte Datendienste nicht beliebig aus diesem herausgerechnet oder von einer anstehenden Drosselung ausgenommen werden dürften. Generell müsse auch bei Volumentarifen ausgeschlossen werden, dass einzelne Inhalte des offenen Netzes willkürlich beschränkt oder bevorzugst werden. Die Deutsche Telekom hatte zuvor erwogen, etwa ihr eigenes IPTV-Angebot Entertain nicht als Verbrauchsfaktor anzusetzen.

Als zu weit gefasst und missbrauchsanfällig erachtet der Bundesrat die EU-Kriterien für "angemessenes" Verkehrsmanagement. Besonders kritisch sei der Punkt, mit dem private Zugangsanbieter "beliebige Rechtsvorschriften" durchsetzen könnten sowie Verbrechen nach eigenem Ermessen bekämpfen oder verhindern sollten. Ein solcher Ansatz sei "offensichtlich nicht mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit vereinbar", da Provider damit "originär staatliche Befugnisse" wahrnähmen.

Stattdessen müssten Anbieter jede gesetzlich zu definierende Ausnahmesituation und hierbei veranlasstes Netzwerkmanagement dokumentieren und unverzüglich nationalen Regulierern melden, meint der Bundesrat. Die Inhalte übertragener Datenpakete dürften nicht etwa durch Deep Packet Inspection eingesehen werden, sofern dies nicht unabdingbar sei, um erhebliche Nachteile für den gesamten Datenfluss oder die Integrität der Infrastruktur zu verhindern. Einschränkungen der Qualität und Verfügbarkeit auf Basis eines "Routerzwangs" dürften nicht erlaubt werden.

Übel stößt dem Bundesrat eine "deutliche Verschiebung der bisherigen Zielsetzung" des EU-Rahmens von der "Wettbewerbsförderung nationaler Telekommunikationsmärkte hin zu einer europäischen zentral gesteuerten Marktkonsolidierung zugunsten großer nationaler oder transnationaler Unternehmen" auf. Er hege "erhebliche Zweifel" daran, dass damit die Konkurrenzfähigkeit der EU gegenüber asiatischen oder amerikanischen Ländern gesteigert werden könne. Der bisherige Infrastrukturaufbau sei "vor allem das Ergebnis eines wettbewerblichen Umfelds".

Das Harmonisierungsstreben Brüssels geht den Ländern in mehreren Bereichen wie der Frequenzregulierung zu weit. Das Funkspektrum dürfe nicht allein als Wirtschaftsgut betrachtet, die Belange des Rundfunks müssten bedacht werden. Es werde daher hierzulande "auf absehbare Zeit" nicht möglich sein, das 700-MHz-Band für die mobile Breitbandkommunikation bereitzustellen. Beim Kundenschutz fehle in der EU-Initiative zudem etwa das Recht, bestimmte Rufnummernbereiche oder die Identifizierung des Mobilfunkanschlusses über die WAP-Schnittstelle zu sperren. Unklar sei auch, ob das hiesige Aus für kostenpflichtige Warteschleifen aufrecht erhalten werden könne. (anw)