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Wem gehört das Internet? Die scheinbar naive Frage steht zunehmend im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

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Wem gehört das Internet? Die scheinbar naive Frage steht zunehmend im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

Das Internet ist nicht das, wofür ich es gehalten habe“, schreibt der Blogger Sascha Lobo in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. „Ich glaubte, es sei das perfekte Medium der Demokratie, der Emanzipation, der Selbstbefreiung. Der Spähskandal und der Kontrollwahn der Konzerne haben alles geändert. Das Internet ist kaputt.“

Ist es das wirklich? Zumindest unterliegt es einem radikalen Wandel. Seit den frühen 90er-Jahren durchläuft das Internet eine massive Kommerzialisierung. Nun ist es eine Infrastruktur, die für die postindustrielle Gesellschaft so wichtig geworden ist wie das Straßen- und Schienennetz für die Industrialisierung – und der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Kein Wunder also, dass zahlreiche Interessengruppen versuchen, die Spielregeln und Rahmenbedingungen für das Netz zu ihren Gunsten zu ändern. Die Kinder der digitalen Revolution, die Webentwickler, Hacker, Internet-Gründer, Blogger, Aktivisten und Netzpioniere haben in diesen Auseinandersetzungen zunehmend das Gefühl, unter die Räder zu geraten.

10,3 Millionen Menschen zählen in Deutschland zu diesem sozialen Milieu der „Digital-Souveränen“, hat das Deutsche Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) auf der Basis einer Umfrage des Sinus-Instituts 2012 ermittelt. Der typische „Digital-Souveräne“ ist im Schnitt 35 Jahre alt, geprägt von „Technik-Faszination“ und „entspanntem Fortschrittsoptimismus“. Er ist meist männlich, gebildet und hat ein „gehobenes Einkommensniveau“. Der Umgang mit Computer und Internet ist für ihn „eine Selbstverständlichkeit“, die strikte Trennung von Berufs- und Privatleben eine „überkommene Vorstellung“ einer „altmodischen, unflexiblen Gesellschaft“.

Das Weltbild und damit die „kollektive Identität“ dieser Szene speist sich aus der „Internetkultur“ mit ihren verschiedenen Strängen, schreibt der Politologe Alexander Hensel vom Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die akademische Gemeinschaft bildete die Keimzelle des Ur-Internets und verankerte das Prinzip des freien Zugangs zu Information und Wissen. Hacker-Gruppen stießen hinzu, propagierten die unbedingte Freiheit der technischen Entwicklung und demonstrierten mit erfolgreichen Open-Source-Projekten wie Linux, Firefox oder der Wikipedia, was sich auf der Basis freiwilliger Zusammenarbeit auf die Beine stellen lässt. Auch soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter gelten ihnen als Beispiele für die Kraft unzensierter, freier Kommunikation und Selbstorganisation. Die Gründerkultur des Silicon Valley schließlich steht für die wirtschaftliche Kraft des Internets.

Internet-Vordenker wie Jeff Jarvis und Clay Shirky destillierten aus diesen Strömungen in ihren Büchern eine mehr oder weniger geschlossene Ideologie, aus der sich die politischen Positionen zur Debatte um das Urheberrecht (siehe Seite 81) genauso ableiten lassen wie die Ablehnung von Zensur und Überwachung (siehe Seite 76) oder die strikte Forderung nach Netzneutralität (siehe Seite 74): Das Internet habe die Gesellschaft ähnlich grundlegend verändert wie die Druckerpresse, argumentieren sie. Das aber sei nur möglich gewesen, weil seine technische Struktur frei, offen und selbstorganisiert ist. Jede Beschränkung dieser Freiheit würde dem Netz seine innovative Kraft nehmen.

Alles falsch, argumentiert dagegen Evgeny Morozov (siehe Interview Seite 78). Der 30-jährige weißrussische Autor, der mittlerweile an der Harvard University promoviert, hat zunächst selbst an die demokratisierende Kraft des Internets geglaubt – um die Idee dann nach den Recherchen zu seinem ersten Buch „The Net Delusion“ umso lustvoller zu demontieren. Dabei wirkt der Mann, der von der Wochenzeitung „Zeit“ als „brillantester Internet-Theoretiker unserer Zeit“ gefeiert wird, bei flüchtigem Hinsehen selbst wie ein typischer Nerd: Hemd ohne Krawatte, schmalrandige Brille, beginnende Stirnglatze. Er redet schnell, bildet lange, komplizierte Sätze, wobei er zwischendurch unvermittelt aufhört zu reden und sich einen Zettel schnappt, um schnell etwas zu notieren.

„Die Leute, die Technologie als Medium untersuchen, gehen immer davon aus, dass die Art und Weise, wie diese Technologie benutzt wird, etwas mit ihren inhärenten Eigenschaften zu tun haben muss“, sagt Morozov. Weil das Internet auf einer offenen technischen Plattform beruhe, führe das nicht automatisch zu mehr gesellschaftlicher Offenheit und Demokratie. „Das ist einfach dumm. Es geht nicht um Technologie an sich. Es geht darum, unter welchen ökonomischen und politischen Bedingungen diese Technologie eingesetzt wird.“

Derlei Denken tun die Digital-Souveränen schnell als Fortschrittsfeindlichkeit ab. Doch so einfach ist es nicht. Denn das Idealbild eines freien Netzes gerät zunehmend unter Druck. So beschloss das Europäische Parlament 2006 eine Richtlinie, um sämtliche Internetanbieter zu verpflichten, Verbindungsdaten sechs Monate zu speichern – offiziell sollte die Richtlinie vor allem der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dienen. Beim Verdacht auf eine schwere Straftat sollten diese Daten an die Ermittlungsbehörden weitergegeben werden. 2007 setzte die Bundesregierung die Verordnung in einem nationalen Gesetz für Deutschland um – geplant war, mit den Vorratsdaten auch Verstöße gegen das Urheberrecht zu verfolgen.

Die Fokus-Artikel im Einzelnen:

Seite 66 - Gesellschaft: Das Internet erlebt derzeit einen radikalen Wandel

Seite 72 - Open Data: Online-Informationen sollen Bürgern die politische Beteiligung erleichtern

Seite 74 - Netzneutralität: Das Web könnte zu einem Shoppingcenter mit Zutrittsbeschränkung mutieren

Seite 76 - Überwachung: Die Politik scheut sich, die Befugnisse der Geheimdienste zu beschneiden

Seite 78 - Interview: Der Netz-Theoretiker Evgeny Morozov glaubt nicht an die Freiheit des Internets

Seite 81 - Urheberrecht: Neue Gesetze bringen die Debatte ums Copyright wieder in Schwung

Seite 82 - Infografik: Eine Karte des weltweiten Datenverkehrs

(wst)