Arbeiter_innen verlassen die Fabrik

Arbeitskämpfe in China sind zahlreich und werden in den entwickelten Industrienationen nicht wahrgenommen. Seit 2010 formulieren die Arbeiter_innen vermehrt offensive Forderungen. Wanderarbeiter_innen spielen eine entscheidende Rolle bei diesen Veränderungsprozessen.

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Von
  • Peter Pawlicki

Am 17. Mai 2010 verlassen Arbeiter_innen einer Getriebefabrik von Honda ihre Arbeitsplätze und treten auf die Straße von Nanhai (Provinz Guangdong): sie streiken und fordern substantielle Lohnerhöhungen. Mehr als 1800 Arbeiter_innen beteiligen sich und legen die gesamte chinesische Produktion von Honda tagelang lahm.

Gleichzeitig lösen sie damit eine landesweite Streikwelle in der Automobilindustrie aus, in deren Verlauf Fabriken von Hyundai, Chrysler und Toyota bestreikt werden und für kurze Zeit schließen müssen. Selbst eine Begrenzung der Berichterstattung kann die Streiks nicht eindämmen, die sich bis Ende Juli hinziehen. Die Streiks werden größtenteils von Wanderarbeiter_innen organisiert und durchgeführt.

Im September 2012 streikten in Shanghai 6000 Arbeiter von Flextronics.

(Bild: China Labor Watch)

Der Streik bei Honda in Nanhai wird als Wendepunkt der Arbeiterkämpfe in China wahrgenommen, der den Beginn einer offensiveren Phase markiert. Statt wie bisher Arbeitskämpfe auf defensive Ziele wie die Verteidigung oder den Erhalt grundlegender Rechte zu beschränken, werden nunmehr weitergehende Forderungen formuliert. Lohnerhöhungen, die über den rechtlich zugestandenen Rahmen hinausgehen, sind dabei zentrale Forderungen. Aber auch der Ruf, eigene Gewerkschaften wählen zu dürfen, wird stärker.

Diese Veränderungen sind auch in der Elektronikindustrie in China zu beobachten, und sie gehen, wie im gesamten Produktionssektor des Landes, mit einem Anstieg der Arbeitskämpfe insgesamt einher. Obwohl Streiks in China nicht grundsätzlich verboten sind, ist ihre Rechtmäßigkeit unklar.

Kurze, militante Streiks

So hängen staatliche Sanktionen gegen betriebliche Arbeitskämpfe immer stark von der lokalen und nationalen politischen Gemengelage ab. Offizielle Zahlen zu Streiks sind in China nicht vorhanden, da sie in der Kategorie sogenannter Massenzwischenfälle untergehen, deren Zahl landesweit von 9.000 in 1994 auf 18.000 in 2010 angestiegen ist. Die Arbeitskämpfe in China sind meist von kurzer Dauer und hoher Militanz.

Der seit einiger Zeit immer weiter zunehmende Arbeitskräftemangel, ausgelöst unter anderem durch die Ein-Kind-Politik, hilft, die strukturelle Macht der Arbeiter_innen zu erhöhen. Gleichzeitig ist ein kultureller Wandel bei den Wanderarbeiter_innen festzustellen. Die Rückkehr in das Heimatdorf nach ein paar Jahren der harten und entbehrungsreichen Arbeit hat als Lebensentwurf ausgedient. Die jungen Wanderarbeiter_innen wollen heute in den Metropolen bleiben und die dort gebotenen Möglichkeiten auskosten.

Die sich so formierenden Anspruchshaltungen werden von rechtlichen Entwicklungen wie dem Arbeitsvertragsgesetz von 2008 flankiert, die den Schutz der Arbeiter_innen erweitert haben. Das von der Kommunistischen Partei Chinas verfolgte Ziel der„harmonischen Gesellschaft“ führt zu einem teilweise veränderten Umgang mit sozialen Konflikten, die nicht mehr vollständig eliminiert werden. Kontrolle findet heute vermehrt durch die Bereitstellung legitimer Kanäle statt, etwa des Rechtsweges. Dies schließt brutale Sanktionen jedoch in keiner Weise aus.

Ein Gastbeitrag von Peter Pawlicki

(Bild: Andreas Pleines)

Peter Pawlicki hat viele Jahre am Institut für Sozialforschung in Frankfurt zur Globalisierung in der Elektronikindustrie geforscht. Im Rahmen seiner Promotion untersuchte er Kontrolle und Organisation der Arbeit von Chipdesignern in Osteuropa. Zurzeit arbeitet er als Projektsekretär beim Vorstand der IG Metall.

Die Wanderarbeiter_innen sind das Fundament auf dem die Produktion in den chinesischen Standorten der global organisierten Elektronikindustrie fußt. Ihr durch das Hukou-System regulierter sozio-ökonomischer Status hat die viel gerühmten Flexibilitäts- und Lohnkostenvorteile ermöglicht.

Das Hukou-System entstammt der frühen chinesischen Kommandowirtschaft und bindet Sozialrechte an einen bestimmten Ort, meist den der Geburt. In dem sie sich auf der Suche nach Arbeit in eine andere Stadt aufmachen, lassen die Wanderarbeiter_innen ihre Sozialrechte zurück. Öffentliche Dienstleistungen wie Schulen, Krankenhäuser, Kranken- und Rentenversicherung stehen ihnen am neuen Wohnort nicht mehr zu. Die Situation der Arbeiter_innen im Betrieb wird durch das Hukou-System weiter prekarisiert, das sich auch negativ auf die Möglichkeiten von Arbeitskämpfen auswirkt.

Aktivisten wichtiger als der Gewerkschaftsbund

In China sind unabhängige Gewerkschaften nicht zugelassen, und von den staatlichen Gewerkschaften können die Arbeiter_innen meist keine Hilfe erwarten. Diese verhalten sich bei betrieblichen Auseinandersetzungen meist passiv oder stehen auf der Seite des Managements. Auch bei privaten und ausländischen Unternehmen, wo Gewerkschaften durchaus anzutreffen sind, ist dies der Fall.

Regelmäßig werden Gewerkschaften von der Unternehmensleitung eingesetzt und nicht von den Arbeiter_innen gewählt. Selbst bei gewählten betrieblichen Gewerkschaften ist Vorsicht geboten. So ist die Ankündigung von Foxconn in seinen Betrieben die Gewerkschaften wählen zu lassen von Aktivisten mit Hinweis auf die problematische Kandidatenwahl nicht mit Begeisterung aufgenommen worden. Die Aktion hat die klare Stoßrichtung gutes Marketing für die Nachhaltigkeitsberichte der belieferten Großkunden von Foxconn zu bieten.

Trotz der problematischen Lage wird von einigen Beobachtern festgestellt, dass es im Allchinesischen Gewerkschaftsbund Anzeichen von Veränderung gibt und sich Vertreter kritischer Fraktionen in einigen lokalen Strukturen durchsetzen können.

Viel wichtiger als die Gewerkschaften sind die verschiedenen organisierten und unorganisierten Aktivist_innen in China, die an der Verbesserung der Situation der Arbeiter_innen arbeiten. Schulungen, juristische Hilfe und die Unterstützung bei sozialen Krisensituationen sind wichtige Momente dieser Arbeit. Die von Organisationen wie SACOM und China Labor Watch, unter oft schwierigen Umständen angefertigten Berichte und Fallstudien zu den Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten in China helfen die globale Öffentlichkeit über die wirkliche Lage der Arbeiter_innen zu informieren. Sie setzen damit den meist rosig gehaltenen Berichten der Hersteller etwas entgegen.

Streiks in der Elektronikindustrie

Von den Wanderarbeiter_innen in der Elektronikindustrie werden vergleichsweise offensive Forderungen formuliert. Am 29. März 2012 treten mehr als 700 Wanderarbeiter_innen von Ohms Electronics, einem Tochterunternehmen von Panasonic, das elektrische Schalter fertigt, in Shenzhen auf die Straße. Sie sitzen drei Tage lang relativ friedlich auf Plastikstühlen vor der Fabrik. Neben Forderungen nach einem höheren Einkommen und der Möglichkeit, Urlaubsanträge stellen zu können, verlangen sie auch demokratische Wahlen ihrer Gewerkschaft im Betrieb. Viele der Beschäftigten haben erst kurz zuvor erfahren, dass es eine Gewerkschaft in ihrem Betrieb gibt, welche jedoch vom Management eingesetzt wurde.

Trotz einiger Widerstände versteht der lokale Gewerkschaftsverband in Shenzhen das Anliegen und unterstützt die Arbeiter_innen bei den Wahlen. Ob es sich bei dem im Mai 2012 neu gewählten Gewerkschaftsvorsitzenden um eine_n Produktionsarbeiter_in handelt, wie in einigen Meldungen zu lesen ist, ist nicht klar. Fest zu stehen scheint jedoch, dass das neu gewählte betriebliche Gewerkschaftskomitee rund zur Hälfte aus Streikteilnehmer_innen besteht.

Die Arbeiter_innen bei Ohms Electronics sind durch die Erfolge selbstsicherer geworden. Nur neun Monate nach der Wahl kommt es Anfang 2013 zu neuen Protesten, ausgelöst durch die Weigerung des Unternehmens, unbefristete Verträge anzubieten, wozu es rechtlich verpflichtet ist. Die Arbeiter_innen fühlen sich von ihrem neuen Gewerkschaftsvorsitzenden in dieser Frage in Stich gelassen. Mit einem Aushang am Fabriktor fordern sie seine Absetzung und Neuwahlen.

Die Restrukturierung der Elektronikbranche entwickelt sich immer weiter. Die 2011 angekündigte Übernahme der Mobiltelefonsparte von Motorola durch Google ist der erste große Schritt von bisher auf Software spezialisierten Anbietern in die Hardwareproduktion. Den bislang letzten Höhepunkt markiert die diesjährige Übernahme der Handysparte von Nokia durch Microsoft. Gleichzeitig bleiben jedoch bestimmte Strukturmerkmale bestehen. So beginnt Google Ende 2012 damit, die Produktionsstandorte von Motorola Mobility an Flextronics zu verkaufen. Diese Auslagerungen machen den in Singapur beheimateten Kontraktfertiger zum weltweit größten Zulieferer von Fertigungsdienstleistungen von Motorola.

In Tianjin, wo sich der chinesische Produktionsstandort von Motorola Mobility befindet, löst diese Restrukturierung in Googles Zuliefererkette einen Streik aus. Im April 2013 blockieren rund 7000 Arbeiter_innen das Werkstor und fordern höhere Abfindungen. Da Flextronics ankündigt, nach der Übernahme neue Arbeitsverträge anbieten zu wollen, was als verklausulierte Formulierung für schlechtere Verträge verstanden werden kann, wollen sich die Arbeiter_innen so den Übergang oder Austritt erleichtern.

Die Arbeitskämpfe in China sind zahlreich, kurz und oft militant und bleiben gleichzeitig in den entwickelten Industrienationen unbemerkt. Auch die zahlreichen Selbstmorde von Arbeiter_innen bei Foxconn haben an dieser Situation nur sehr wenig geändert. Die globale Elektronikindustrie mit ihren Produktionsstandorten in China und den weltweit verteilten Märkten ist eine Arena, in der das diskursive Wegsehen angegangen werden muss. Die in der Industrie herrschende hohe Flexibilität, drastisch verkürzte Produktlebenszyklen und die immense Fragmentierung der Zuliefererketten führen jedoch zu einer komplexen Problemlage. Der extreme Margendruck wird an die schwächsten Glieder in der Kette weitergegeben, an die Arbeiter_innen. Gleichzeitig erlaubt die Komplexität der Produktionsketten den Herstellern Taktiken der Verschleierung.

Die Erfolge der chinesischen Arbeiter_innen können nur als erste Schritte auf einem langen Weg betrachtet werden. Sie haben ein riesiges Feld vor sich. Nicht nur kämpfen sie für bessere Arbeitsbedingungen. Sie müssen gleichzeitig eine fundamentale Veränderung der bestehenden Gewerkschaftsstrukturen durchsetzen, in einem sich weiterhin als kommunistisch titulierendem Land.

CC-BY

Dieser Artikel erschien zuerst in FIfF Kommunikation, der Zeitschrift des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e. V.

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