NSA-Whistleblower fordert Verfassungsänderung und Sonderermittler gegen das "korrupte Regierungssystem"

William Binney, früherer technischer Direktor der NSA, betont, der Schwerpunkt beim Netzabhören durch die NSA bilde das Anzapfen von Datenströmen direkt an Glasfaserleitungen und mithilfe von "über 50.000" Spionage-Implantaten in IT-Geräten.

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Einer der Vorgänger Edward Snowdens, der Ex-NSA-Mitarbeiter William Binney, hat auf der Transmediale in Berlin schwere Vorwürfe gegen Washington erhoben. Die von Snowden mit Dokumenten handgreiflich gemachte massive Netzspionage des technischen US-Geheimdienstes gründe in einer nicht weniger umfangreichen Verschwörung der gesamten US-Regierung und großen Teilen des Kongresses, erklärte der vormalige Codeknacker am Sonntag auf dem Medienkunstfestival: "Es sind so viele Leute einbezogen, die alle ihren Hintern retten wollen."

William Binney, ehemaliger NSA-Mitarbeiter meint, die Sicherheitsbehörden gingen mit den NSA-Daten auch gezielt gegen zivilgesellschaftliche Organisationen vor

(Bild: Stefan Krempl / heise online)

Um das Dickicht zu durchdringen, hält Binney einen speziellen Chefankläger und Sonderermittlungsausschuss für nötig. Die Verfassung müsse überarbeitet werden, um diesen Weg auf Verlangen des Volkes hin generell zu eröffnen. Das NSA-Überwachungsprogramm selbst hält der Whistleblower, der jahrelang innerhalb des Parlaments- und Justizsystems dagegen vorzugehen suchte und sich seit 2012 verstärkt an die Öffentlichkeit wendet, in mehrfacher Hinsicht für verfassungswidrig. Schon die allgemeine Anordnung des für die NSA zuständigen Sondergerichts FISC an Provider wie Verizon, den Spionen sämtliche Verbindungsdaten über alle Kunden zu übergeben, sei mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar.

Dazu komme, dass die US-Regierung und die NSA die Schnüffelei gleich nach dem 11. September 2001 gegen US-Bürger gerichtet hätten. Erst im Anschluss sei sie auf "die gesamte Welt" ausgedehnt worden. Den Schwerpunkt bilde das Anzapfen von Datenströmen im sogenannten Upstream-Verfahren direkt an Glasfaserleitungen und mithilfe von "über 50.000" Spionage-Implantaten in IT-Geräten, plauderte Binney aus dem Nähkästchen. Daraus stammten rund 80 Prozent der gesammelten Informationen. Den Rest deckten die aus dem PRISM-Programm stammenden Verbindungsdaten ab.

Die Entscheidung zur umfassenden Telekommunikationsüberwachung hat die frühere Regierung unter George Bush dem Insider zufolge "vier Tage nach 9/11" getroffen. Sie sei strikt geheim gehalten worden, die Leiter der Geheimdienstausschüsse von Senat und Abgeordnetenhaus habe man darüber aber in Kenntnis gesetzt. Diese hätten still gehalten und sich damit erpressbar gemacht. So sei etwa ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bush geplatzt.

NSA-Skandal

Die NSA, der britische GCHQ und andere westliche Geheimdienste greifen in großem Umfang internationale Kommunikation ab, spionieren Unternehmen sowie staatliche Stellen aus und verpflichten Dienstleister im Geheimen zur Kooperation. Einzelheiten dazu hat Edward Snowden enthüllt.

Schon seit 2001 nutzt laut Binney auch das FBI den immensen Datenhort "für die Strafverfolgung weltweit". Während der Blick der NSA-Analysten auf die echten Terrorbedrohungen und die großen Fische durch die Unmenge an Informationen getrübt werde, flögen durch das Programm immer wieder etwa Steuerbetrügereien und andere vergleichsweise kleine Delikte auf. Andere Ämter etwa in der Finanzverwaltung hätten mittlerweile ebenfalls Zugriff auf die Daten.

Er und seine Mitstreiter wie Kierke Wiebe oder Thomas Drake hätten sich unter anderem ans Repräsentantenhaus sowie den Supreme Court mit ihren Bedenken gewandt, führte Binney aus. Im Gegenzug habe das US-Justizministerium auf Basis erhobener Verbindungsdaten ihnen die Mitarbeit an einer Verschwörung vorgeworfen, was sie alle jahrelang hätte ins Gefängnis bringen können. Just nach bewussten Andeutungen in abgehörten Telefongesprächen, Nachweise über anhaltende Grundrechtsverletzungen öffentlich zu machen, sei die Klage fallen gelassen worden.

Die Sicherheitsbehörden gingen mit den NSA-Daten auch gezielt gegen zivilgesellschaftliche Organisationen vor: "Das ist J. Edgar Hoover auf Speed", betonte Binney unter Anspielung auf den Kreuzzug des früheren FBI-Direktors gegen Kommunisten und die Bürgerrechtsbewegung. Er habe daher der US-Politik gemeinsam mit seinen Whistleblower-Kollegen empfohlen, einer Gruppe technischer Experten Einblick in die Systeme und Datenbanken der NSA zu gewähren, um die offiziellen Verlautbarungen prüfen zu können. Zudem müsse es eine rechtliche Möglichkeit geben, sich gegen das Führen auf einer Terrorliste zur Wehr zu setzen.

Die Ex-MI5-Agentin Annie Machon hält Whistleblower für eine der letzten Bastionen "gegen den Schattenstaat".

(Bild: Stefan Krempl / heise online)

Die Ex-MI5-Agentin Annie Machon warb dafür, Whistleblower bei ihrem Schritt an die Öffentlichkeit zu ermutigen, da diese oft die "letzte Bastion gegen den Schattenstaat" bildeten. Derzeit machten Reporter, über die Enthüllungen liefen, Karriere, während ihre Informationsgeber jahrelange Haft oder gar die Todesstrafe drohe.

Machon kündigte an, im Frühjahr eine Institution mit dem Namen "Courage" zum Schutz journalistischer Quellen gründen zu wollen. Zumindest in Großbritannien sei ferner der Kampf gegen zahlreiche Gesetze nötig, über die auch Pressevertreter als Terroristen und Geheimnisverräter abgestempelt werden könnten.

Whistleblower hätten gerade im Militär derzeit in den USA keine rechtlichen Möglichkeiten, die Wahrheit publik zu machen, ergänzte mit Alexa O'Brien die wohl eifrigste Beobachterin des Prozesses gegen Chelsea (früher Bradley) Manning. Die Enthüllerin der War Logs habe sich nach einem "höheren Gesetz gerichtet: dem öffentlichen Gewissen", erklärte die Bloggerin unter Tränen.

Die Manning-Unterstützerin Diani Barreto gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass das Internet mit seinen zahlreichen Plattformen zur Meinungsäußerung auch nach dem NSA-Sündenfall zur "5. Gewalt" heranreife und die Nutzer darüber die traditionellen Mächte noch stärker kontrollierten. Die PR-Expertin der Wau-Holland-Stiftung bezeichnete es als wichtige journalistische Aufgabe, "einen Guerilla-Krieg gegen die eigene Regierung zu führen". (jk)