Machen Infektionen psychisch krank?

Offenbar werden psychische Erkrankungen in vielen Fällen von einem fehlgeleiteten Immunsystem verursacht. Ein fast 100 Jahre alter Forschungsansatz könnte helfen, sie besser zu behandeln.

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Von
  • Kristin Raabe
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Offenbar werden psychische Erkrankungen in vielen Fällen von einem fehlgeleiteten Immunsystem verursacht. Ein fast 100 Jahre alter Forschungsansatz könnte helfen, sie besser zu behandeln.

Wie fast überall auf der Welt zu dieser Zeit, sind im Winter 1918 auch die Krankenhäuser von Boston überlastet. Die Spanische Grippe grassiert in der Stadt. Es fehlt an Räumlichkeiten und an Pflegepersonal. Deshalb werden auch die örtlichen psychiatrischen Heilanstalten zu Krankenlagern umfunktioniert. Trotz der chaotischen Zustände fallen dem jungen Psychiater Karl Menninger bei den neuen Patienten überraschend vertraute Symptome auf. In einer 1919 im Fachjournal "Journal of the American Medical Association" veröffentlichten Arbeit beschreibt Menninger 80 Grippepatienten mit Symptomen, die Mediziner heute als psychotisch bezeichnen würden.

"Damals wurde erstmals vermutet, dass es zwischen Schizophrenie und einer Infektionskrankheit einen Zusammenhang geben könnte", erzählt der Arzt Markus Schwarz. In seinem Labor im Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München verfolgt er die Spur, die Menninger vor 95 Jahren entdeckte. Schwarz ist überzeugt, dass Infektionskrankheiten einen wesentlichen Anteil an der Entstehung von psychischen Erkrankungen haben können.

Solche Vorstellungen gehörten für die meisten Mediziner lange in das Reich des Aberglaubens. Inzwischen ist aber klar, dass diese Erklärung viele Rätsel um psychische Erkrankungen lösen könnte. Sogar die Heilung von Patienten, die sonst ihr Leben in der geschlossenen Psychiatrie verbringen müssten, ist dadurch möglich geworden.

Dabei wurden Forscher wie Schwarz, die sich der Infektionshypothese widmeten, lange nicht ernst genommen. Das änderte sich erst allmählich, als Ende der neunziger Jahre erste Studienergebnisse die Vermutung untermauerten. Der dänische Epidemiologe Preben Bo Mortensen untersuchte die medizinischen Daten von mehr als zweieinhalbtausend Schizophrenie-Patienten. Seine Erhebung ergab klar: Nur in Ausnahmefällen stammten die psychisch Kranken aus Familien, in de- nen diese Erkrankung häufig vorkam, also vererbt wurde. Bei der großen Mehrzahl gab es deutliche Hinweise, dass Infektionskrankheiten die Schizophrenie ausgelöst hatten.

Viele Kranke waren beispielsweise in den Wintermonaten geboren worden. Das sprach für die These, dass eine Infektionskrankheit der Mütter im letzten Schwangerschaftsdrittel das sich entwickelnde Nervensystem der Babys geschädigt hat. Aber auch andere Absonderlichkeiten der epidemiologischen Daten ließen sich durch die Infektionshypothese besser erklären. Dass mehr Stadtbewohner als Landbewohner unter Schizophrenie leiden, könnte beispielsweise daran liegen, dass sich in der Enge der Stadt Infektionskrankheiten leichter ausbreiten.

Die Häufung der Indizien veranlasste Wissenschaftler weltweit, den Zusammenhang genauer zu erforschen. Sie vermuteten zunächst, dass nur bestimmte Erreger von Infektionskrankheiten auch psychische Schäden verursachen. Zwar wurden sie auf internationalen Fachtagungen nach wie vor belächelt: "Na, habt ihre euren Schizokokkus immer noch nicht gefunden", witzelten die Kollegen. Doch schon bald erwies sich die Jagd als erfolgreicher als erwartet: Die Erreger von Grippe, Röteln, Toxoplasmose, Halsschmerzen und weitere Mikroben landeten im Fahndungsnetz. Sie zeigten den Medizindetektiven, dass nicht die genaue Art des Erregers entscheidend war. Als Nächstes nahmen Forscher deshalb die grundlegenden Mechanismen unter die Lupe, die allen Infektionskrankheiten gemeinsam sind.

Einer davon ist das sogenannte Krankheitsverhalten, das alle Patienten – egal ob sie an Grippe oder Masern leiden – schon vor der Diagnose zeigen: Sie sind niedergeschlagen, können sich schlecht konzentrieren, ziehen sich zurück und meiden den Kontakt zu anderen Menschen. Die Auslöser für dieses Verhalten sind Botenstoffe des Immunsystems. Sie setzen das Immunsystem in Bereitschaft, sobald Erreger in den Körper eindringen.

Markus Schwarz aber glaubt, dass sie auch an der Entstehung psychischer Erkrankungen beteiligt sind: "Bei jeder Infektion und Entzündung im Körper werden diese sogenannten Zytokine ausgeschüttet, und viele von ihnen wirken auch im Gehirn", erläutert der Arzt.

Das führt in einigen Fällen offenbar zu unangenehmen Nebenwirkungen. Die Zytokine können beispielsweise die Umwandlung der Aminosäure Tryptophan in das "Glückshormon" Serotonin stören. Der so ausgelöste Mangel an dem Botenstoff ruft das Krankheitsverhalten hervor. Ärzten gibt nun zu denken, dass auch im Gehirn von depressiven Patienten nicht genug von dem Hormon vorhanden ist. Schwarz hält es für möglich, dass die Zytokine bei manchen Patienten zu einer Art chronischem Krankheitsverhalten führen, das in einer Depression gipfelt.

Weitere Belege für den Einfluss des Immunsystems auf die Psyche liefern Fälle, in denen psychische Erkrankungen direkt nach akuten Infektionen auftreten. Auch die 29-jährige Anne Rahms (Name von der Redaktion geändert) klagt zunächst nur über Müdigkeit und Konzentrationsstörungen – die typischen Symptome des Krankheitsverhaltens also.

Ernsthafte Sorgen macht sich ihre Mutter, Magdalena Rahms, da noch nicht. Doch dann hatte ihre Tochter plötzlich Probleme mit der Orientierung und findet sich in dem Krankenhaus, in dem sie als Krankenschwester arbeitet, nicht mehr zurecht. Als die junge Frau zudem plötzlich ständig davon redet, dass sie schlecht riecht und weitere Wahnvorstellungen entwickelt, erkennt ihre Mutter, dass etwas Grundlegendes nicht in Ordnung ist. "Sie hat sich dann selbst in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen", erzählt Rahms. Welche Immunentgleisungen hinter solchen plötzlich auftretenden psychischen Erkrankungen stecken, sollen mehrere Großforschungsprojekte aufdecken. Im EU-Projekt "Moodinflame" untersuchen Forscher beispielsweise, wie Entzündungen, die oft Infektionen begleiten, mit Stimmungsstörungen zusammenhängen.