re:publica? AW:Gesellschaftskonferenz

Was 2007 als Bloggerkonferenz begann, ist nach Ansicht der Veranstalter eine "Gesellschaftskonferenz" geworden, die alle Themen des digitalen Lebens abdeckt und von allen Alterskohorten von 12 bis 70 Jahren besucht wird.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Detlef Borchers

Andreas Schmidt

Vor Snowden war alles witziger. Dennoch hatten die Hipster, die eindeutig die Mehrheit der re:publica-Besucher bildeten, ihren Spaß. Als die Konferenz mit einer Trompe de Chasse abgeblasen wurde und das obligatorische Gruppenkaraoke vorbei war, war die Stimmung andächtig wie beim Abschiedssingen an einem großen knisternden Lagerfeuer. Dennoch sprach der Veranstalter von einer Gesellschaftskonferenz. Eine Nachlese.

Wo das Internet lebt, da lässt sich trefflich scheitern. Der Soziologe Andreas Schmidt brachte in seinem viel zu kurzen Vortrag das Dilemma des modernen Menschen auf den Punkt: "Das Internet ist wie ein großes Einkaufszentrum. Du hast freien Eintritt, wirst aber auf Schritt und Tritt beobachtet." Du magst deinen Spaß haben wie Felix Schwenzel in seinem humorigen Vortrag "Wie ich lernte, die Überwachung zu lieben". Verglichen mit dem Protest der Schwarzen gegen die Rassendiskriminierung geht es den Netizen doch gut. In der Überwachungsgesellschaft lebt es sich komfortabel, mit kleinen Einschränkungen. "Vor Snowden war Sascha Lobo witziger. Und ich auch", befand Schwenzel.

Mit den Gegenstrategien war es deutlich schwieriger, weil eine Gesellschaft deutlich mehr umfasst als internetaffine Menschen und speicherwütige NSA-Mitarbeiter. Andreas Schmidt verwies auf Immanuel Kant, der sich in seiner Schrift vom ewigen Frieden wenig Illusionen über den Charakter der Gattung macht:

"Der Charakter der Gattung, so wie er aus der Erfahrung aller Zeiten und unter allen Völkern kundbar wird, ist dieser: Daß sie, kollektiv genommen, eine nach- und neben einander existierende Menge von Personen ist, die das friedliche Beisammensein nicht entbehren und dabei dennoch einander beständig widerwärtig zu sein nicht vermeiden können."

Felix Schwenzel

Der eng mit dem Internet verflochtene Informationsvorsprung der USA, "America's Information Edge" bedingt eine Informations-Hegemonie in den Köpfen, die erst einmal aufgehoben werden müsse. Die Informationsdominanz werde von den USA nicht freiwillig aufgegeben, schließlich meint man, in ihr ein probates Mittel im weltweiten "Kampf gegen den Terror" zu haben, seit 2001 oberste Leitlinie der US-Politik. Schmidt antwortete auf die Frage eines Zuhörers, ob das Internet-Monopol nicht durch ein Multi-Netzwerk abgelöst werden könne, recht skeptisch: "Es wird immer nur ein Netz geben."

Die gleiche Frage wurde Morgan Marquis-Boire vom kanadischen Citizenlab gestellt, der sich mit Fear and Loathing on the Internet beschäftigte, einer erweiterten Fassung seines Vortrags auf dem 30C3. Firmen wie Amesys und Hacking Team oder Gamma International, die "Lawful Interception Software" herstellen und ohne Gewissensqualen nach Libyen, Ägypten, Syrien oder Bahrain ohne Kontrolle exportieren, Firmen wie Vupen, die Schwachstellen an die NSA verkaufen, leben von demselben Internet, das dem Hipster seine Tweets serviert. Auch Marquis-Boire sprach sich nicht für ein neues, sauberes Netz aus, sondern plädierte für kleine Schritte hin zu mehr Sicherheit vor NSA- und GCHQ-Schnüffeleien, etwa durch Einsatz von StartTLS wie bei E-Mail Made in Germany. Aus dem Publikum erntete er dafür angesichts mancher Unsicherheiten heftige Kritik.

Die Veranstalter sprechen stolz von einer Gesellschaftskonferenz, was dem Senioren Computer Club Berlin Mitte geschuldet ist, der im Rahmen der ex:publica "die Möglichkeit erhielt", die Konferenz zu besuchen. Gut möglich, dass die Selbstzuschreibung als Gesellschaftskonferenz eines Tages zutrifft, wenn die weiter wachsende re:publica "in the wild" wie eine digitale Berlinale die ganze Stadt bespielt und Menschen jedes Alters von sich aus Tickets kaufen. (anw)