Netzneutralität: Das "gefühlte Problem" und reale Grundrechtsverletzungen

Bei einer Anhörung im Bundestag zum offenen Internet redeten die Experten viel aneinander vorbei und widersprachen sich grundsätzlich: Für die einen fördern "Spezialdienste" die Demokratie, für die anderen das klassische Netz.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 12 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Im Ausschuss Digitale Agenda des Bundestags prallten am Montag bei einem Fachgespräch zur Netzneutralität die Meinungen der Sachverständigen frontal aufeinander. Die eine Seite warnte vor Grundrechtsbrüchen, sollte das Prinzip der weitgehenden Gleichbehandlung von Datenpaketen aufgegeben werden. Die andere beschwor ebenfalls eine Grundrechtsverletzung herauf, falls das klassische Internet nicht mit "Spezialdiensten" angereicht würde. Einigkeit herrschte allein bei der These, dass die viel beschworene "Gigabit-Gesellschaft" mit massivem Bandbreitenausbau den Streit wohl beenden würde.

Das Modell einer globalen neutralen Netzinfrastruktur, in dem jeder neuer Dienst die darunterliegende Basis frei nutzen kann, hat laut Thomas Lohninger von der Digitalen Gesellschaft zu einer "bahnbrechenden Mannigfaltigkeit" und zu einem kräftigen Innovationsschub geführt. Müsste künftig etwa ein Musikstreaming-Anbieter erst mit einzelnen Internetprovidern aushandeln, dass eine feste Übertragungsqualität garantiert oder von ihm abgerufene Daten nicht vom Kundenvolumen abgezogen werden, schüfe dies dagegen "große Markteintrittshürden". Profitieren würden von so einem Umfeld die großen Content-Lieferanten, die sich entsprechende Deals leisten könnten.

In seinem Plädoyer für die Netzneutralität bezeichnete Lohninger das Internet auch als eine Infrastruktur für die gesellschaftliche Teilhabe von vergleichbar grundsätzlicher Bedeutung wie etwa die Strom- oder Wasserversorgung. Die Meinungs- und Informationsfreiheit sei darüber nur gegeben, wenn ein Zugangsanbieter keine Einschränkungen bei den gelieferten Inhalten vornehme. Schon jede Klassifizierung von Angeboten etwa in "Spezialdienste" bedürfe zudem einer Analyse des Netzverkehrs, was zu Problemen mit dem Datenschutz führe. Sollten Provider gar weitgehend in den Netzverkehr eingreifen dürfen, stellte dies einen gravierenden Grundrechtseingriff dar.

Laut Lohninger besteht insbesondere für den europäischen Gesetzgeber massiver Handlungsbedarf, da das Gremium europäischer Regulierungsstellen BEREC bereits 2012 weitverbreitete Verstöße gegen die Netzneutralität vor allem im Mobilfunk dokumentiert habe. Der vom EU-Parlament aufgezeigte Weg, wonach der gesamte Internetverkehr weitgehend gleich behandelt werden soll und Spezialdienste nur in engen Grenzen möglich wären, sei daher weiter zu gehen. So würde der alte Kontinent auch ein Zeichen setzen gegen den US-Regulierer FCC, der einer beschleunigten Durchleitung oder preislichen Differenzierung von Datenpaketen das Wort rede.

Netzneutralität

Netzneutralität bedeutet, dass Inhalte im Internet gleichberechtigt ihren Weg finden. Vor allem Provider und Carrier wollen aber beispielsweise für Videos extra zu bezahlende Überholspuren einbauen. Für User entstünde ohne Netzneutralität ein Zweiklassen-Internet.

Für Bernhard Rohleder vom Branchenverband Bitkom würde die Initiative des EU-Parlaments dagegen nur "einen Status herstellen, den es schon gibt". Das Netz, das längst in verschiedene Klassen aufgeteilt sei, könne dagegen mittlerweile etwa den Anschluss über eine teure Standleitung als "Qualitätsdienst" abbilden und so "für kleines Geld" flächendeckend verfügbar machen. Dies käme einem "mehr an Demokratie fürs Internet" gleich, da sich darüber das rasche Ausliefern von Inhalten möglichst nah am Kunden nicht mehr nur Konzerne wie Google mit speziellen Datenzentren, sondern auch Startups oder Blogger leisten könnten. Der digitale Behördenfunk, der derzeit über ein unterschiedliches Netz laufe, wäre übers Internet ebenfalls einfacher und günstiger zu bekommen gewesen.

Probleme mit der Netzneutralität seien "nirgendwo mehr messbar", ergänzte Rohleder. Sollten sich wider Erwarten doch welche einstellen, reiche das Wettbewerbs- und Kartellrecht aus, um sie in den Griff zu bekommen.

Der Kommunikationsrechtler Hubertus Gersdorf räumte zwar ein, das Spezialdienste derzeit zu Lasten des "Best Effort"-Internets gingen, in dem alle Datenpakete möglichst mit gleicher Priorität unabhängig etwa von Quelle oder Inhalt transportiert werden. Trotzdem seien gesonderte Netzangebote "unverzichtbar" für die Verwirklichung von Kommunikationsgrundrechten. Geschuldet sei dies der besonderen Stellung des Rundfunks. Wenn aber für lineare, klassische TV-Inhalte eine gesicherte Übertragungsqualität zu gewährleisten sei, müsse dies im Sinne des Wettbewerbs auch für Abrufdienste gelten. Auch diese hätten einen Anspruch darauf, dass die Provider ihre Videos ruckelfrei in die Wohnzimmer brächten.

Bei Satellitenbetreiber oder in Kabelnetzen sei ein Übertragen in verschiedenen Qualitätsstufen üblich, ohne dass sich jemand darum schere, führte Gersdorf aus. Die vom EU-Parlament ins Spiel gebrachte Anforderung, wonach Spezialdienste nur "über logisch getrennte Kapazitäten" laufen dürften, bezeichnete er dagegen als "Rückfall ins Zeitalter der analogen Postkutsche". Damals sei über einen Weg nur ein Dienst ausgeliefert worden. Die Digitalisierung ermögliche aber gerade die Abwicklung aller möglicher Services über einen multifunktionalen Kanal. Abwarten und eine "Regulierung ins Blaue hinein" vermeiden, lautete der Ratschlag des Forschers.

Den EU-Abgeordneten den Rücken stärkte wiederum Christoph Fiedler vom Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ), der die Netzneutralität als "Segen" bezeichnete. Wer Anreize schaffe, über Spezialdienste bestimmten Inhalten einen größeren Marktanteil zu verschaffen, verursache große Probleme. Schnellstraßen für Videos führten zu einem "Schnitt durch den publizistischen Wettbewerb". Nur das "Aufbohren neutraler Netze hält uns auf der sicheren Seite". Der Bundestag müsse ein deutliches Zeichen in diese Richtung an die Bundesregierung setzen, damit diese sich im EU-Rat für diese Linie stark mache.

Aus der technischen Warte erläuterte Klaus Landefeld vom Verband der deutschen Internetwirtschaft eco, dass ein Zulassen von Spezialdiensten immer dazu verleite, "den anderen Kanal schlechter zu machen". Man könne sie nur verkaufen, wenn tatsächlich ein Mangelszenario bestehe. Eine Entwicklung in diese Richtung wäre im Nachhinein kaum mehr "gerade zu rücken". Derzeit gebe es außer dem IPTV-Angebot Entertain der Deutschen Telekom noch so gut wie keine Spezialdienste hierzulande. Bei diesem sei messbar, dass beim Nutzen des Videodienstes für andere Tätigkeiten im Netz "kaum etwas übrig bleibt". (axk)