Die Rolle der IT im Kampf gegen Kriminalität

Unter ihrem ehemaligen Chef Jürgen Storbeck entstand bei Europol deren spezifische IT-Systematik mit einem Datenbanksystem aus Arbeitsdateien zu Analysezwecken. Im Gespräch mit heise online erläutert Storbeck die Entstehungsgeschichte.

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  • Ulrike Heitmüller
Inhaltsverzeichnis

Unter ihrem ehemaligen Chef Jürgen Storbeck entstand bei Europol deren spezifische IT-Systematik mit einem Datenbanksystem aus Arbeitsdateien zu Analysezwecken (Analysis Work Files, AWF): Sie bildeten den Kern der Arbeit und wurden oft als "Herzstück" Europols bezeichnet. Eine AWF ist eine Datei zu einem bestimmten Kriminalitätsgebiet oder einer Personengruppe, zu denen Europol den EU-Mitgliedstaaten oder auch assoziierten Drittstaaten eine operationale Unterstützung bieten will.

Ein AWF enthält Angaben zu Personen, Fakten sowie Recherche- und Analyseergebnisse. AWFs sind das erste und einzige derartige legale Werkzeug auf europäischer Ebene. Mit der Zeit entstanden gut 20 unterschiedliche AWFs zu verschiedenen Themen. Inzwischen hat Europol seine IT-Systematik umgebaut, die AWFs heißen inzwischen "Focal Points". Storbeck schildert im Gespräch mit heise online die Entstehungsgeschichte und welche Rolle dabei die "Operation Monitor" gegen Rockergruppen spielte.


heise online: Wie kam es, dass die entstehende Europäische Polizeiorganisation Europol ein AWF ausgerechnet zum Thema Rockerkriminalität aufbaute?

Jürgen Storbeck

ging nach seinem Jurastudium zum Bundeskriminalamt, wo er später Leiter der Ermittlungsabteilungsabteilung EA für Organisierte Kriminalität wurde. 1992 wechselte er nach Straßburg, 1994 nach Den Haag, um die neu entstehende europäische Polizeiorganisation Europol aufzubauen, wurde ihr Direktor und blieb es bis 2004. Bis 2011 nahm er verschiedene Funktionen in Bundes- und Landesministerien wahr. Inzwischen ist er im Ruhestand und berät internationale Organisationen wie das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (United Nations Office on Drugs and Crime, UNODC). Außerdem begleitet er Forschungsprojekte.

Jürgen Storbeck: Zunächst haben wir uns bei Europol auf den Informationsaustausch und die Weitergabe von Informationen aus verschiedensten nationalen und internationalen Quellen spezialisiert. Dann haben wir relativ schnell auch Analytiker eingestellt. Das waren schon mit die ersten Rekrutierungen.

Wann war das?

Das war 1994. Wir hatten einerseits zwei operative Analytiker, die aus den vielen Informationen Hinweise für Verhalten oder Aktivitäten von kriminellen Organisationen herausfiltern sollten und andererseits strategische Analytiker für Lageberichte, Bedrohungs- und Risikoanalysen. Die vier ersten Analytiker waren zwei Engländer und zwei Niederländer. Mit ihnen, Ermittlern und Juristen war dann zu organisieren, wie Informationen in Dateien eingespeichert, bearbeitet und weitergeleitet werden: Wer Zugriff haben, wer einspeichern, wer bearbeiten, wer davon profitieren soll und wie ein in sich gesichertes Umfeld geschaffen wird. Da habe ich mich persönlich mit eingebracht.

In rudimentärer Form gab es so etwas schon auf dem Markt, zum Beispiel bei den Engländern, interessanterweise auch bei Geheimdiensten in Dänemark, Schweden und in den Niederlanden. Aber nicht in dieser ausgefeilten Form, insbesondere nicht mit diesem gesamten Hintergrund von Datensicherheit und Datenschutz.

Wie war denn das bei der Operation Monitor?

Der AWF Monitor war einer der ersten, vielleicht sogar die erste Datei, und auf jeden Fall von Anfang an eine sehr bedeutende.

Warum?

Weil bereits für bestimmte eingegrenzte Kriminalitätsbereiche wie zum Beispiel für größere Rauschgiftorganisationen und teilweise auch für terroristische Organisationen schon national starke Dateien existierten, vergleichbar mit den Arbeitsdateien, aber kaum kriminalitätsübergreifend. Gerade hinsichtlich der Rocker war das im wesentlichen noch Flickwerk. Das galt so auch für Deutschland, das durch Rockerkriminalität ja sehr stark betroffen war.

Wie kam es dann zur Arbeitsdatei?

Der Vorschlag kam von Spezialisten der betroffenen Länder, vor allem den Skandinaviern. Die hatten große Ermittlungsprobleme in der Zeit. Auch wir – das heißt Deutschland – hatten größere Rockerverfahren, im Ruhrgebiet, Schwerpunkt Dortmund, und teilweise in Düsseldorf. Das Bundeskriminalamt hat damals auch gegen Rocker ermittelt, zum Beispiel gegen MC Gremium. Der große Vorteil für uns war, dass es eine Informationsfülle und nationale Dateien gab, die wir erstmals international zusammenfügen konnten. Und so bekamen wir innerhalb kürzester Zeit eine für europäische Verhältnisse große Analysedatei. Die wurde später auch von Kanada oder den USA für die dortigen Verfahren genutzt.

Warum ausgerechnet Rocker? – Sie hatten ja schon einiges zu Terroristen, und auch die Arbeitsdatei zum Thema Geldwäsche ist deutlich größer, oder?

Ja, heutzutage. Aber das muss man auch historisch sehen. Von Mitte der 90er bis 2001 war Europa international durch Terrorismus weniger betroffen. Die Geldwäschedatei war dagegen interessant, weil sie Bezüge zu unterschiedlichen Kriminalitätsfeldern hatte und sich aus den verschiedensten Einzelverfahren speiste. So haben wir ein großes Verfahren gegen Menschenhandel unterstützt, bei dem osteuropäische Prostituierte über verschiedene Transitstaaten nach Italien verschoben und verkauft wurden. An den Ermittlungen waren Österreich, Italien und noch einige andere Staaten beteiligt. Aus dieser Datei waren natürlich auch viele Geldwäscheaktivitäten zu vermelden, die dann teilweise für andere Ermittlungszwecke mit genutzt werden konnten. Denn diese Geldwäscher, zum Beispiel eine irische Gruppierung, haben für verschiedene kriminelle Organisationen gearbeitet; für Drogenhandel und Menschenhandel. Deshalb wurde die Datei natürlich immer größer, weil die Daten aus verschiedenen Bereichen kamen.

Europol hat die Operation Monitor ja schon sehr früh beschlossen, schon 1996. Auf wessen Initiative?

Schweden und Dänemark, dann hat Finnland das gleich mit unterstützt.

Waren Sie damals bei dem ersten Treffen dabei?

Damals war das alles Chefsache. Das Treffen hatte bei uns stattgefunden. Die Europol-Kooperation ist so organisiert, dass es als Kunden oder Partner zu Europol die nationalen Einheiten gibt, also die nationalen Dienststellen. Deren Chefs, die Heads of National Unit (HENUs) haben sich alle zwei Monate bei Europol getroffen und diskutiert, was wichtig ist, wo Bedrohungen sind und was gemacht werden muss.

Das Projekt Monitor ergab sich aus dem ständigen Informationsaustausch, der über uns lief. Aber eben auch, weil die skandinavischen HENUs sagten, sie hätten ein großes Problem mit Rockern, denn sie würden immer radikaler. Dabei hätten sie sogar Kriegswaffen eingesetzt. Zu der Zeit hatten dagegen die Spanier, Franzosen, Italiener gesagt, dass sie überhaupt kein Problem mit Rockern haben. Die Engländer meinten, sie hätten ein gewisses Problem. Und bei den Niederländern hatten Rocker schon fast eine soziale Stellung erreicht, der Chef der Hells Angels war damals zum Beispiel mehrfach in Talkshows eingeladen.

Es war ein sehr unterschiedliches Bild. Wir wollten dann die Bedrohung analysieren und Ermittlungsansätze zu gewinnen, und da haben wir Ende 1996 diesen AWF dargestellt.

Die Schwierigkeit war von Anfang an, dafür lage- und ermittlungsrelevante wichtige Daten zu bekommen. Nationale Dienststellen haben sich aus verschiedenen Gründen häufig geweigert – nicht offiziell, aber de facto –, wichtige Informationen zuzuliefern. Wir mussten mit solchen Großverfahren auch Vertrauen erwecken.

Warum?

Dies ist ein Phänomen, das haben Sie bei der Kriminalpolizei und bei anderen Diensten auch immer wieder: Wissen ist Macht. Da gab es ungeheure Vorbehalte, Informationen an andere Dienststellen und gar internationale Organisationen abzugeben, die heute noch in gewisser Weise bestehen; aber dadurch, dass sich Europol und das Instrument der AWF so bewährt haben, wurden sie in großem Maße abgebaut.

Auch deshalb war das für uns sehr wichtig, dass wir ein sehr geschütztes Umfeld für die Behandlung von Informationen, von Daten, hatten. Und wir mussten die Garantie geben, dass wir keine Daten ohne Genehmigung an Dritte herausgeben.

Es wurden ja dann ungefähr 20 AWF erstellt?

Am Anfang hatten wir vier, es wurden dann mehr als 20. Ein AWF heißt nicht, dass damit ein Kriminalitätsbereich voll abgedeckt wird. Er zielt normalerweise sehr stark auf eine Gruppierung oder auf ein, zwei oder drei nationale Großverfahren, die irgendwie miteinander verknüpft sind.

Ein rechtlich und fachlich interessantes Problem war die Frage, wie man die Information aus AWF in eine Datei bekommt, die auch für andere Zwecke genutzt werden kann. Beispiel Geldwäsche: Wenn das Geldwäscheverfahren zu Ende ist, dann wird der AWF geschlossen. Ich hatte eine irische Gruppierung erwähnt, zu dieser gehörten mindestens sechzig bis hundert verschiedene Einzelkontakte zu anderen Gruppierungen. Was macht man mit den Informationen über diese Kontakte, die für das Hauptverfahren nicht mehr relevant waren? Man kann nicht ausermitteln. Irgendwann ist Schluss, da gibt es Kompetenzprobleme, aber es gibt auch rechtliche Probleme: Man kann nicht einfach weiter ermitteln. Und dann muss man sich bemühen, dass dieses Wissen zu anderen kriminellen Aktivitäten nicht sofort verlorengeht. Aber das ist wieder ein eigenes Thema, das sehr stark juristisch belastet ist.

Wegen des Datenschutzes? Die meisten AWFs müssen doch nach drei Jahren gelöscht werden, und es muss auch immer notiert werden, wann sie gelöscht werden.

Ja.

Wie profitieren eigentlich die Mitgliedsländer von einem AWF?

Sie haben verschiedene Vorteile: Sie haben erstens einen allgemeinen Lagebericht, zweitens Bedrohungsanalysen und drittens Risikoanalysen. Aber was ganz wichtig ist: Aus diesen AWF gibt es Ermittlungsansätze. Aus Informationen wird Intelligence gemacht. Intelligence ist "information made for action".

Wie funktioniert das? Geht Europol auf die einzelnen Mitgliedstaaten zu und spricht Warnungen aus? Gibt es Dokumente heraus oder gehen die Mitgliedstaaten auf Europol zu?

Das geht per Telefon oder E-Mail, über gesicherte Nachrichtennetze, die Europol aufgebaut hat. Wie zum Beispiel das System SIENA, das genutzt wird, um Informationen, Analyseergebnisse und Berichte zu übertragen, die genaue Hinweise geben wie: "Vorsicht, derjenige, der innerhalb der Hells Angels für Waffen zuständig ist, ist bei Euch, vielleicht ist da das Waffendepot der Hells Angels." Und Analytiker gehen in dem entscheidenden Moment häufig sogar zum Einsatzteam in dem jeweiligen Land.

Hat sich eigentlich bei Europol und in den Mitgliedsstaaten durch die Operation Monitor die Einstellung gegenüber Rockern geändert?

Ja. In den Niederlanden und europaweit wurde die kriminelle Energie der Rocker ernster genommen. In Frankreich wurde auf Grund dieses AWFs erstmals versucht, überhaupt festzustellen, ob sie ein Rockerproblem haben. Nach damaligen französischen Erkenntnissen gab es ja keine Rockerkriminalität, bis die französische Polizei sie nachher auch dort festgestellt hat. In Deutschland wurde stärker gemerkt, wie stark die internationalen kriminellen Beziehungen sind und wie die zusammenarbeiten. Über diesen AWF wurde meines Wissens dann stärker auch mit anderen Staaten zusammengearbeitet. Im kleinen Grenzverkehr, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen – Niederlande, funktionierte das schon. Aber die kriminellen Netzwerke von Skandinavien bis Spanien sind gar nicht bekannt gewesen und ernst genommen worden.

Es galt zumindest für die Beschaffung von Kokain – und die Hells Angels haben ja auch stark mit Rauschgift gehandelt, wobei Kokain und synthetische Drogen von besonderem Interesse waren. In Spanien waren Bezugsquellen für Kokain, das ist von Südamerika häufig dort angelandet. Es war wohl Ende der 90er, da veranstalteten die Hells Angels sogar ihr Jahrestreffen, den world run, in Spanien. Und da hatten wir denn auch Europol-Beamte vor Ort.

Und diese haben etwas über Kokain rausgefunden?

Nein, aber sie haben Erkenntnisse angereichert. Zum Beispiel ist ja oft die Rollenverteilung bei einer kriminellen Organisation nicht klar. Das gilt auch für Rocker. Nun arbeiten Rocker häufig nach stark vorgegebenen Strukturen, das ist historisch so bedingt. Es sind ja alles ehemalige Militärs gewesen, die das aufgebaut haben. Vorne fährt der Chef des betreffenden Chapters, rechts außen der Waffenmann, links ist der für Finanzen und so weiter. Wir haben gesammelt, wer und warum die meiste Zeit mit den anderen zusammenhängt. Daraus kann man Rückschlüsse ziehen.

Wir konnten aber nicht feststellen, ob Kokain übergeben wird – die Hells Angels wären ja verrückt, wenn sie bei so einem Event dann ihren kriminellen Handel machen.

Hat sich Europol durch die Erkenntnisse aus den AWFs selbst auch verändert?

Nur wenn Sie die AWFs haben und damit eben auch die Kriminalität richtig beurteilen können, können Sie Prioritäten setzen. Zum Beispiel haben wir aus den AWFs gelernt, dass IT eine immer größere Rolle spielt. Dass immer mehr Kriminalität abwandert aus dem normalen Leben in das virtuelle Leben. Darauf hat sich Europol vorbereitet. Das führte dazu, dass Europol voriges Jahr das Cybercrime Center der EU geworden ist. Der Bereich wird jetzt extrem ausgebaut.

Hat sich auch durch die Arbeit am AWF Monitor etwas bei Europol geändert?

In einzelnen Maßnahmen natürlich. Wir haben an Monitor gerade zu Beginn gemerkt, wie wichtig Vertrauensschutz und Sicherheit ist, wie wichtig es ist, auch aus verschiedenen Fakultäten der kriminalpolizeilichen Tätigkeit Leute hinzuzuziehen: Wir mussten sehr früh auch die Bedeutung der Geldwäsche mit berücksichtigen. Der normale Ermittlungsansatz damals in den Mitgliedsstaaten war: Da ist irgendwo Gewalt aufgrund von Schutzgelderpressung, jetzt ermitteln wir. Zusätzlich versuchten wir festzustellen, wohin die kriminellen Erlöse gehen. Wir stellten fest, was das für Einkünfte sind und auch, wie diese Einkünfte wieder investiert wurden. Uns wurde klar, dass es eine große Rolle spielt, einfach zu wissen, wer letztlich die finanziellen Vorteile hat, um so dann wieder die wahre Macht festzustellen. Und deshalb haben wir eben auch verstärkt Leute geholt, die sich mit dieser Umwandlung von Gewalt zu Geld und von Geld dann zu Investitionen auskannten.

Welche Leute haben Sie geholt?

Die kamen aus dem Bereich der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Aber wenn wir zum Anfang gesagt haben: Wir machen jetzt die große Untersuchung, wir unterstützen die internationalen Ermittlungen gegen Rocker mit einem AWF und möchten dafür jetzt mal zwei Spezialisten für Wirtschaftskriminalität haben, dann hätten die alle gesagt: Ja, spinnt Ihr denn? Das sind doch brutale Banden, Ihr müsst da die Gewaltkriminalität-Spezialisten nehmen.

Dieser neue, umfassende Ansatz bildete sich dann im Laufe der Ermittlungen heraus.

Wir benötigten Leute, die sich zum Beispiel im Transportwesen auskennen, also zum Beispiel von der Guardia de Financia oder vom Zoll, weil die wissen, wie Transporte denn überhaupt erfolgen: Wie können denn zum Beispiel überhaupt zwei Tonnen Cannabis sicher in ein Land transportiert werden, wer kommt denn dafür in Frage? Das kann man ja nicht mit dem Fahrrad von Neukölln schaffen, sondern Sie brauchen heutzutage einen Container. Also: Wie transportiert man einen Container von Marokko nach Buxtehude? Lädt man den auf einen LKW? Nimmt man einen Zug? Nimmt man die Kanäle? Also: Es wurde dabei immer klarer, wie viel Spezialwissen notwendig ist.

Europol kann solche Spezialisten aber auch nicht ständig vorhalten. Deshalb war für uns klar, wir mussten sehr schnell auch ein Team von nationalen Experten haben.

Und wie viele nationale Experten haben Sie sich aufgebaut zum Thema Monitor?

Das weiß ich nicht. Das können 100 sein, das können aber auch nur 50 sein. Wir haben Dateien für Spezialisten angelegt, die uns von den Mitgliedstaaten empfohlen wurden.

Gab es vielleicht mehr Kompetenzen bei Europol, die Sie aufgrund Ihrer Erkenntnisse zum Thema Rocker erlangen konnten?

Nein, ich glaube nicht, dass es jetzt zusätzlichen Kompetenzen dabei gab. Monitor war sehr wichtig für den Anfang, das war das war wirklich eine der zwei, drei wichtigsten AWF. Das ist ganz klar, denn das hat Europol bei den nationalen Dienststellen auch bekannt gemacht.

Warum? So viele Rocker gibt es doch gar nicht.

Erstens, weil wir einerseits diesen einseitigen starken Ansatz nur sehr national geprägter Ermittlungen verändert haben. Zwar gab es für Bereiche wie Drogen oder Terrorismus schon grenzüberschreitende Arbeitsgruppen. Aber nicht oder nur ausnahmsweise im Einzelfall für eine kriminelle Gruppierung an sich, das heißt eine spezielle organisierte Kriminalitätsgruppierung wie die Rocker. Das war also eigentlich ein richtiger großer neuer Ansatz.

Und das zweite war: Gerade durch Monitor, durch dies AWF, haben sich dann sehr stark diese gemeinsamen Ermittlungen heraus ergeben, die so die Vorstufe der Joint Investigation Teams waren. Diese JITs sind so eine Art Sonderkommissionen, die inzwischen sogar im EU-Rechtshilfeübereinkommen von 2001 in Artikel 13 als Instrument der Internationalen Zusammenarbeit verankert sind. Das heißt, in diesem Rechtshilfeverfahren können auch Staatsanwälte oder Richter, Untersuchungsrichter, Polizeibeamte und Zollbeamte mitarbeiten. Und im Zoll-Abkommen Naples II sind diese Teams als Customs Investigation Teams verankert.

Das heißt, Monitor hat auch dazu beigetragen, dass Europol sich entwickelt hat?

Das war ein wichtiger Punkt. Dazu kommt, dass Europol bald zumindest auf diesem Gebiet sehr stark anerkannt war. Und zwar sowohl in den Mitgliedsstaaten als auch in Drittstaaten: Anfang 2000 haben wir Analytiker und zuständige Spezialisten, die eigentlichen Ermittler, zu Gerichtsverfahren nach Kanada geschickt. Dort waren im Rahmen von Auseinandersetzungen 25 Morde geschehen. Die Europol-Experten sind als Zeugen drüben gehört worden, um vor den dortigen Gerichten dann eben diese transatlantischen Beziehungen, das ganze Geflecht, aber auch die Strukturen zu verdeutlichen. Das war damit eine transatlantische Anerkennung von Europol, insofern wurde Europol dadurch auch in Kanada und den USA bekannt.

Das heißt, Europol hat sich durch die Rocker schon verändert, ist größer geworden?

Das wuchs mit und hat im Tagesgeschäft einen starken Einfluss gehabt. Aber dass Europol durch Monitor groß geworden ist – das stimmt nicht. Das ist nicht mit den Ereignissen nach dem 11. September 2001 zu vergleichen, da hab ich nämlich auf einen Schlag plötzlich Geld und Personal bekommen, fast mehr, als nötig war. Das war bei den Rockern nicht so. Andere wie die Italiener oder selbst die Spanier haben mich gefragt, warum ich soviel für diese Rocker investiere, das sei überhaupt kein Problem, eine Folkloregruppe.

Monitor wurde eingerichtet, damit sichtbar wird, welche Verbrechen in der Drogenkriminalität mit Rockern in Verbindung gebracht werden könnten.

Das war ein ganz wichtiger Punkt, weil da der beste Anfasser war. Mit Schutzgelderpressung können Sie sehr schwer internationale Beziehungen darstellen: Wenn zum Beispiel ein Bordell oder eine Gastwirtschaft in Antwerpen Schutzgelder zahlen muss, holen sie dort nicht die Schlägertrupps, die Einschüchterer aus Hannover, das machen die selbst. Aber beim Drogenhandel, da brauchen Sie den Transport, manchmal – bei synthetischen Drogen – schon die Produktion, meinetwegen in den Niederlanden und Belgien, und Sie müssen den gesamten Weg von der Produktion bis hin zum Verteilernetz vergegenwärtigen, und der ist grenzüberschreitend.

Ähnliches gab es auch – deshalb war das die zweite Priorität – beim Menschenhandel, beim Handel mit Prostituierten. Da gibt es natürlich auch diese internationalen Bezüge. Da wurde ja nicht gesagt: "Ihr in Hannover, guckt Euch mal Mädchen von der Schule an, die Ihr dazu bringt, dass sie Prostitution machen." Die hat man woanders hergeholt. Es ging teilweise auch mit Waffenhandel. Und natürlich dann eben die Geldwäsche, das war der dritte Ansatz, aber der kam eben erst später.

Also wir hatten angefangen und mussten ja auch die nationalen Dienststellen bis hin zur Politik gewinnen, dass wir das machen. Beim Thema Drogen sahen sie das Gefährdungspotenzial, aber mit dem Menschenhandel sahen sie kein Problem. Das sagten sie so lange, bis Mitte der 90er Jahre in Dünkirchen Chinesen in Containern erstickt sind. Da wurde Menschenhandel dazu genommen und Prostitution kam als Spezialgebiet gleich damit hinzu. – Damit konnten Sie auch solche Ermittlungen überhaupt international organisieren.

Inwiefern entstand die damalige Entscheidung für den AWF Monitor, gerade Rocker zu untersuchen, als gemeinsame strategische Entscheidung im Sinne einer Strategie, um die IT-Systematik aufzubauen?

Ich habe Sie so verstanden: Erstens wollten die HENUs die IT-Systematik Personengruppen-tauglich machen, darum haben sie eine Gruppierung für ein AWF ausgewählt. Zweitens wollten sie als europäische Polizeiorganisation internationale Ermittlungen "lernen" und haben darum eine internationale Gruppierung ausgewählt.

Lag der Grund darin, dass die HENUs sicher waren, dass Rocker gefährlich sind? Oder wollten sie herausfinden, ob sie gefährlich beziehungsweise wie gefährlich sie sind? Wie war das Verhältnis zwischen strategischem Vorgehen beim Aufbau des AWF-Systems und kriminalistischen Erkenntnissen?

Die IT- und Analysesystematik und -technik und Monitor wurden parallel aufgebaut. Informations- und Analysedateien sollten so entwickelt werden, dass sie sowohl der Methodik und den Informationsbeständen von Mitgliedsstaaten entsprachen oder ihnen flexibel angeglichen werden konnten als auch den unterschiedlichen nationalen rechtlichen Vorgaben Genüge taten und schließlich für operative Zwecke, also Ermittlungen, nützlich waren.

Auch suchten Europol und einige Mitgliedsstaaten nach Fallkomplexen von internationaler Dimension, die in den Zuständigkeitsbereich von Europol fielen, bei denen Europol "added value" geben konnte, und bei denen die mitwirkenden Mitgliedsstaaten auch bereit waren, umfassend Informationen – auch sensibler Natur – an Europol zu geben. Letzteres war je nach Mitgliedsstaat und dortigen Behörden nicht selbstverständlich.

Bei der Entscheidung, ein AWF zu Rockerkriminalität anzulegen, half die Tatsache, dass gerade die skandinavischen Staaten, die Niederlande und auch Großbritannien Europol positiv gegenüberstanden und gute Erfahrungen mit operativer Analyse auf nationaler Ebene gemacht haben. Die Idee, anhand von Rockerkriminalität die Bekämpfung organisierter Kriminalität unter Einschaltung von Europol zu lernen, spielte bei den Überlegungen eine Rolle, wobei reizvoll war, dass dieser Ansatz nicht nur einen Kriminalitätsbereich wie zum Beispiel Rauschgift betraf, bei dem ohnehin schon recht gut und auch über Europol zusammengearbeitet wurde, sondern dass hier die Organisationsstruktur und die Vernetzung verschiedener Kriminalitätsformen im Mittelpunkt stand. Auf Grund dieses zeitlichen Zusammenfallens und der Geeignetheit der Thematik wurde der AWF Monitor eine der ersten und wichtigsten AWF mit langer "Lebensdauer".

Aber auch andere AWF spielten in dieser frühen Phase aus verschiedenen Gründen eine wichtige Rolle. Es gab also keine klare Entscheidung, AWF Monitor zum Modell für künftige AWF zu machen und die Technik nur oder vor allem anhand dieses AWF zu entwickeln. (anw)