Marschrutki

Wir stellen fest, dass Länder mit größeren Problemen individuelleren Straßenverkehr bieten. Das liegt an den sich ausprägenden Charakteren beim rollenden Material – teils den Umständen geschuldet, teils einer anderen Mentalität bei seinen Benutzern. Reisebeobachtungen aus dem Osten

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Von
  • David Staretz
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Wien, 8. Dezember 2014 – Diese Stadt am Schwarzen Meer, in der ich mich gerne aufhalte, wird weniger von Verkehr als von einem beweglichen Teilchensystem durchzogen. Dieses besteht in seiner geringsten Form aus alten Shigulis, die wir hier mühelos als Fiat 124 identifizieren würden. Die italienische Kommunismus-Connection der Chruschtschow-Ära ermöglichte Mitte der sechziger Jahre Fiat- Lizenzfertigungen im russischen Bezirkskreis Samara. Der damalige Fiat-Präsident Valetta (Giovanni Agnellis Vorgänger) bekam 1966 den Auftrag, um den sich auch Renault und Volkswagen beworben hatten: Fiat möge eine Fabrik mit einer Leistungsfähigkeit von täglich 2000 Personenwagen errichten und eine Zeitlang auch betreiben. Togliattigrad, benannt nach dem italienischen Kommunistenführer Palmiro Togliatti, wurde unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung aus dem Boden gestampft. Noch heute werden dort die selbst im Osten kaum geschätzten Lada-Kleinwagen Priora und Kalina hergestellt. So weit man Einschätzungen von Finanzexperten folgt, ist ein Konkurs unabwendbar. An den schlechten Absatzzahlen hat auch Renault, das eine Sperrminorität von 25 Prozent hält, zu würgen.

Diese düstere Prognose erscheint auch hier in der Schwarzmeerhafenstadt nachvollziehbar. Bisweilen sieht man Wolgas oder selbst Lada Nivas – der Geländewagen war auch bei uns beliebt. Leider rostanfällig. Rost wird hierorts aber kaum als Problem betrachtet. Verfestigter Schmutz scheint die lecken Karosserien zusammenzuhalten. Tapfer stochern die Autos über blankliegende Straßenbahnschienen, die den tiefen Schlaglöchern Halt und Stützwände verleihen. Häufig sieht (oder übersieht) man gesichtslose Massenware aus Korea oder Japan, Autos, die aussehen wie lieblos gefälschte Handtaschen. Überraschend oft, signalhaft für die gesellschaftliche Abwesenheit von einer breiten Mittelklasse, treten große deutsche oder amerikanische SUVs auf – grundsätzlich in Schwarz, grundsätzlich mit Edelfelgen und getönten Scheiben gepimpt. Sie würden auf Zuwinken nie anhalten, doch ein Shiguli oder eine alte Wolga-Limousine wackeln rasch herbei und nach kurzem Verhandeln – es geht um Beträge zwischen umgerechnet achtzig Cent und vier Euro – zwängt man die Knie hinter die schmalen Vordersitze des nunmehrigen Privattaxis, um sich den Fahrkünsten eines Mannes anzuvertrauen, von dem man meist nie viel mehr sieht als Schirmkappe, Lederjacke und was der Rückspiegel hergibt aus den Beständen eines unbequemen Lebens. Meist setzt sich nach einiger Zeit ein schwerfällig schüttelndes aber robustes Lachen in Gang, wie wenn ein alter Dieselmotor kurz anspringt und dann noch nachläuft mit einigen Fehlzündungen. Das liegt an meiner Begleiterin, die als Native Speaker die Feinheiten russisch-jüdischen Witzes beherrscht und eine erstaunliche Furchtlosigkeit angesichts „alkoholischer Unholde“, wie sie die friedlichen Rüpel nennt, demonstriert.

Marschrutki (13 Bilder)

Eine derart liebevolle Individualisierung eines jahrelangen Weggefährten wirkt auf Unsereinen romantisch - weil wir uns mittlerweile allzuviele gesichtslose Neuwagen auf die Straßen stellen konnten. Das machen im Übrigen alle Gesellschaften, die sich das leisten können.

(Bild: David Straretz (alle))