re:publica 2015: "Wir brauchen einen Ausstieg aus der Total-Überwachung"

"Und täglich grüßt das Murmeltier": Die Macher der re:publica beklagten bei der Eröffnung der Netzkonferenz, dass netzpolitische "Zombies" wie Vorratsdatenspeicherung und die Drosselkom-Debatte nicht totzukriegen seien.

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re:publica 2015: "Wir brauchen einen Ausstieg aus der Total-Überwachung"

(Bild: heise online / Stefan Krempl)

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Inhaltsverzeichnis

Markus Beckedahl, netzpolitik.org-Blogger und Mitbegründer der re:publica 15, erlebte zum Auftakt der Internetkonferenz auf der großen Bühne der "Station-Berlin" am Dienstag ein Déjà-vu: Erst im vergangenen Jahr habe die Enthüllung des "größten Überwachungsskandals" durch den NSA-Whistleblower Edward Snowden eine große Rolle gespielt, diesmal sorge ein ausgeweiteter BND-NSA-Skandal für Schlagzeilen. "Und täglich grüßt das Murmeltier", zitierte er einen populären Filmtitel.

Für Beckedahl ist klar: "Wir brauchen einen Ausstieg aus dem System der Total-Überwachung." Es sei nicht damit getan, einzelne Köpfe beim Bundesnachrichtendienst oder im Kanzleramt auszutauschen.

Wie die geheimdienstliche Netzspionage komme auch der "Zombie" Vorratsdatenspeicherung immer wieder zurück, ärgerte sich Beckedahl weiter. Schon zur ersten re:publica 2007 sei sie thematisiert worden. Dabei gebe es nach wie vor keine Belege, wofür sie zu gebrauchen sei. Das Instrument "gehört weg, sowohl in Deutschland, als auch in der EU und global".

Impressionen von der re:publica 2015 (17 Bilder)

Das große Finale der re:publica 15
(Bild: re:publica; CC BY 2.0 )

Die "Drosselkom-Debatte" bezeichnete Beckedahl als dritten Dauerbrenner auf der Versammlung der digitalen Republik. Seit Jahren werde der Kampf für die Netzneutralität geführt. Nun habe das EU-Parlament hier 2015 endlich "für klare, strenge Regeln gestimmt". Doch die Bundesregierung wolle das Gegenteil und habe sich über den EU-Rat für ein Zwei-Klassen-Netz eingesetzt. Zudem sei in der EU-Kommission jetzt mit Günther Oettinger (CDU) ein Politiker hier mit zuständig, "der uns Taliban nennt, wenn wir für ein freies Netz und Meinungsvielfalt eintreten, und uns in eine Ecke mit Terroristen gestellt hat". Es sei vollkommen absurd, "dass wir solche Politiker über unser Online-Leben bestimmen lassen".

Die re:publica soll sich dieses Jahr auf die Suche nach Europa und damit einer der Utopien machen, die schon etwas älter ist als die der Netzgemeinschaft. "Wir müssen über die Rahmenbedingungen reden, die vor allem in Brüssel und Straßburg gemacht werden", erläuterte Beckedahl die Mottowahl. Die vor Ort Versammelten müssten mitgestalten, wie das Europa der Zukunft und "unsere digitale Gesellschaft in der EU" aussieht. "Wir müssen teilhaben an der Demokratie".

Haeusler (l.), Beckedahl

(Bild: heise online / Stefan Krempl)

Vorab hatte Beckedahl eingeräumt, dass vielen Datenreisenden "noch das Problembewusstsein" fehle. Es drohe eine digitale Welt, in der "Unternehmen die Infrastrukturen kontrollieren". Es sei daher wichtig, Entscheidungen zu beleuchten und zu beeinflussen, die auf EU-Ebene gerade zu netzpolitischen Kernthemen auch wie Datenschutz oder Urheberrecht gefällt würden.

Johnny und Tanja Haeusler vom Spreeblick-Verlag, die den Kongress gemeinsam mit der Agentur newthinking communications veranstalten, erinnerten daran, dass es 28 Jahre gedauert habe, bis die Mauer in Deutschland gefallen sei. Heute fordere noch nicht einmal jemand, dass die um Europa gezogene Festung niedergerissen werde. Sie hießen vor allen diejenigen willkommen, die vor Krieg fliehen müssten ein friedlicheres Leben in Europa suchten.

Dass es sich bei der Großveranstaltung auch um eine "Business-Konferenz" handeln solle, unterstrich Andreas Gebhard von newthinking. Jeder einzelne Blogger, Techniker oder Journalist sei schließlich "mit einem Beschäftigungshintergrund" hier. "Nicht nur wir haben mit Folgen der digitalen Revolution zu tun, sondern auch die am Fließband bei Amazon" oder die Paketzusteller, führte der Unternehmer aus. Europäische digitale wirtschaftliche Aktivitäten müssten aber offene und freie Infrastrukturen bieten. Eine besondere Rolle der digitalen europäischen Wirtschaft sei zwar nicht leicht zu umreißen, wenn "die Hardware aus Asien und die Software aus den USA" stamme. Datenschutz – einmal implementiert – könne aber ein "erfolgreiches Geschäftsmodell" in Europa sein.

Firmengründer mahnte Gebhard, sich nicht einfach vom gerade in Berlin grassierenden "Startup-Hype" mitreißen zu lassen. Es müsse nicht immer ein externer Investor sein, der ein junges Unternehmen finanziere und den Gründern damit ihre Ideen wegnehme. Auch Crowdfunding etwa könne funktonieren oder "organisches Wachstum".

Elmar Giglinger vom Medienboard Berlin-Brandenburg, das die "Media Convention" mit einbringt, machte eine wachsende Kluft zwischen jüngeren und älteren Mediennutzern aus, die zu Spannungen führe. Die "horizontale Serie" sei der neue Film, der aber "noch gefangen ist in Verwertungskette aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts" und "legal wochen- und monatelang nur im Kino zu sehen" sei. Zugleich bedauerte er, dass die entscheidenden Akteure im Internet- und Medienbetrieb "nach wie vor nicht in Europa sitzen".

Nachdem die offizielle Begrüßung mit einer guten halben Stunde Verspätung begann, fragten sich besorgte Teilnehmer bereits, ob die Veranstaltung genauso bestreikt werde wie die Bahn. Insgesamt hat sich das Szene-Event vom familiären "Blogger-Stelldichein", das vor neun Jahren mit rund 700 Besuchern in der Kalkscheune startete, zur riesigen Mainstream-Konferenz mit der rund zehnfachen Teilnehmerzahl gemausert. Insgesamt erwarten die Besucherscharen rund 450 Stunden buntes Programm unter anderem mit Netflix-Gründer Reed Hastings und der russischen Punkband Pussy Riot. Es gibt Unterkonferenzen zu Fashiontech und Smart Cities. (anw)