Stichtag reloaded
Gestern hat der Bundestag über eine Neuregelung des Stammzellengesetzes diskutiert. Der diskursive Aufwand war wahrscheinlich für die Katz. Die Bundesforschungsministerin hat schon vor geraumer Zeit durchblicken lassen, dass der Stichtag verschoben wird.
Gestern hat der Bundestag über eine Neuregelung des Stammzellengesetzes diskutiert. Das Gesetz setzt seit 2002 den rechtlichen Rahmen für die umstrittene Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. Demnach darf in Deutschland nur an Stammzellen geforscht werden, die vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden und aus dem Ausland stammen.
Fast vier Stunden hat die Diskussion gedauert. Sie wurde ohne Fraktionszwang geführt, daraus ergaben sich recht ungewöhnliche Koalitionen: Überzeugte Grüne sind mit Abgeordneten der Linken und Erzkonservativen aus der CSU beispielsweise für eine völlige Abschaffung der Forschung mit embryonalen Stammzellen in Deutschland.
Ich persönlich empfehle als Buch zum Film das neue Pamphlet von John Harris Enhancing Evolution.
Ja, richtig gelesen: DER John Harris – der oft und gerne in einer Linie mit Peter Singer genannt wird, der Utilitarist, der für pränatale Diagnostik plädiert, Doping und Unsterblichkeitsforschung. Doch doch, das meine ich ernst – und ich bin keineswegs zum Transhumanisten konvertiert.
Harris hat nämlich unter anderem dort geschrieben: "Ich stimme mit Bert Brecht überein, dass der Zweck von Naturwissenschaft und Philosophie nicht in einer zweckfreien Befriedigung von Neugier liegt, sondern in dem Nutzen, der sich aus dieser Forschung ergibt" (zumindest sinngemäß – ich habe das Buch grade nicht zur Hand, um nachzuschlagen).
Und das, finde ich, führt zum eigentlichen Kern der Debatte: DER Nutzen ist nämlich keineswegs abstrakt, allgemein und neutral. Wenn wir von Nutzen sprechen, müssen wir immer fragen, FÜR WEN dieser Nutzen denn gilt. Genau das fehlt in dieser Debatte. Denn dann müssten wir anfangen, ein viel größeres Fass aufzumachen: Da drin schwimmen unter anderem die vermeintliche Neutralität medizinischer Forschung und die Interessen der europäischen Pharma-Industrie.
Der diskursive Aufwand war übrigens wahrscheinlich eh für die Katz. Die Bundesforschungsministerin hat schon vor geraumer Zeit durchblicken lassen, dass es wohl auf eine Verschiebung des Stichtages hinauslaufen wird. Jedenfalls hat sie im Januar 2007 im TR-Interview folgendes zu Protokoll gegeben:
TR: Sie kündigen ja an, Forschung ohne ideologische Scheuklappen fördern zu wollen. Gilt das auch für das Thema Stammzellen?
Schavan: Wir haben hier schon heute Forschung auf Weltklasseniveau. Die Wissenschaftler in Deutschland haben sich auf adulte Stammzellen des Menschen und auf tierische Stammzellen konzentriert. Für menschliche embryonale Stammzellen gilt, dass alle Forschung ihre Grenze da findet, wo die Achtung der Menschenwürde und der damit verbundene Lebensschutz betroffen sind. Ich kann die Menschenwürde nicht gegenüber der Forschungsfreiheit abwägen. Sie ist der Forschungsfreiheit vorgelagert – und daraus ergeben sich Grenzen, wie wir sie in Deutschland haben.
Wie ist denn der aktuelle Stand der Debatte?
Schavan: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ja ihre Stellungnahme vorgelegt. Wir werden mit dem Parlament diese Stellungnahme auswerten und alles prüfen, was da drinsteht. Also auch die Frage, ob es außer dem jetzigen Stichtag noch andere Instrumente gibt, mit denen die Substanz des Gesetzes und der damit verbundene Lebensschutz erhalten bleiben. Gleichzeitig darf es keine Lockerung geben, denn Lebensschutz ist Lebensschutz, und da kann man keine Stufen einführen.
TR: Der bisherige Stichtag 1. Januar 2002 ist für Sie also nicht sakrosankt?
Schavan: Entscheidend ist: Der Stichtag muss sicherstellen, dass nur an überzähligen Embryonen geforscht werden darf und dass kein Anreiz für die Herstellung von embryonalen Stammzellen entsteht. Gleichzeitig muss gewährleistet bleiben, dass die aus dem Ausland importierten Stammzellen allein aus überzähligen Embryonen stammen.
TR: Das trifft ja auf jeden Stichtag einschließlich heute zu.
Schavan: Jedenfalls ist er nicht ausschließlich an ein einziges Datum gebunden.
Na ja, und nun können wir ja Wetten annehmen, wie der Beschluss Bundesregierung in dieser Frage aussehen wird. Ich denke, wir kriegen einen neuen Stichtag. Hält wer dagegen? (wst)