Beiläufig

Marc Fisher, Kolumnist der Washington Post, hält das Jagen und Sammeln von Informationen im Internet für eine Oberschichten -Angelegenheit. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall.

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Von
  • Peter Glaser

In der Dämmerung sieht das menschliche Auge seit jeher Dinge, die von außen in den Rand des Blickfelds geraten, in einer rätselhaften Schärfe – eine Überlebensfähigkeit aus ferner, stammesgeschichtlicher Vergangenheit. Heute finden so Intuitionen ihren Weg ins Bewusstsein. Während die Aufmerksamkeit auf etwas anderes fokussiert und abgelenkt ist, kann sich fast beiläufig Neues einschleichen, können Geistesblitze aufleuchten.

Der Computer ist die mächtigste Ablenkungsmaschine der Geschichte – für die einen ein Schrecknis, für die anderen ein Potential voller Schöpfungskraft. Wenn das Feuer im digitalen Zentrum der Aufmerksamkeit manchmal für einen Moment nachlässt, sehen wir staunend, dass nicht mehr der Weg das Ziel ist. Nun ist der Rand die Mitte.

Wohin uns diese neuen, zentrifugalen Richtungskräfte lenken, ist umstritten. Marc Fisher etwa, Kolumnist der Washington Post, hält das Jagen und Sammeln von Informationen im Internet für eine Oberschichten-Angelegenheit. “Der Fokus liegt ... immer auf solchen Personen, die so viel Zeit und Kompetenz haben, Informationen im Netz überhaupt aufzuspüren. Menschen, die selten Zeitung lesen oder Nachrichten im Fernsehen sehen, sind die eigentlichen Verlierer des derzeitigen Medienwandels, denn sie sind weit davon entfernt, selbst die Initiative zu ergreifen und zehn verschiedene Sichtweisen einer Story im Internet zu lesen.” In einem Interview beklagt Fisher sonderbarer Weise, dass wir mit dem Aussterben der gedruckten Zeitung die Möglichkeit verlieren, “beim Überfliegen der Seiten zufällig über Nachrichten zu stolpern. ... Dieses beiläufig erworbene Wissen ist meiner Meinung nach essentiell für die Demokratie, weil es die Massen erreicht. Wenn uns diese Möglichkeit genommen wird, ist das ein wirklich schlimmer Verlust für unsere demokratische Gesellschaftsordnung.”

Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt im Netz vielmehr eine neue Qualität von beiläufigem Informations- oder Wissenszufluss, für die es im Deutschen noch gar keinen Begriff gibt, nur ein schönes, kosnistentes Gefühl. Im englischen gibt es ein Wort dafür: Serendipity. Vergleicht man das Internet mit einer Bibliothek, findet man dieses kostbare, eigenartige Element, das es längst auch bis in die digitale Weltbücherei hinein geschafft hat. Zum Einzigartigen einer Bibliothek nämlich gehört diese Mischung aus Flanieren, Suchen, an Regalreihen entlangstreifen, in kleine, angenehme Zufälligkeiten hineintauchen, wie Onkel Dagobert in das Geld in seinem Geldspeicher. Serendipity – einfach gesagt: interessante Dinge zu finden, die man gar nicht gesucht hat –, erlebt jeder, der im Netz unterwegs ist. Wer Information auf Rundumblicke auf die Nachrichtenwirklichkeit reduziert, hat eine sehr beschränkte Auffassung der Welt im 21. Jahrhundert.

Auch schon die Verkündung zu Internet-Frühzeiten, das Wissen der Welt stünde uns nun zur Verfügung, war eher einer Euphorie geschuldet als einer Tatsache. Bibliotheken und damit den Zugang zum Wissen der Menschheit gibt es seit Jahrtausenden. Fortschritte hat nicht primär die Technik – also der Zugriff auf die Bücher – gebracht, sondern die Verbreitung der Alphabetisierung, die Verbesserung der Bildungs-Chancen. Ein Lesemuffel wird auch heute weder durch eine moderne Bibliothek mit Hotspots und Tralala, noch durch die Informations- und Wissensfluten der Hyperbibliothek Internet bibliophil werden. Durch die – ok: zum Teil kakophonische – verschwenderische Überfülle im Netz zu stolpern, die natürlich nicht nur aus ausgewogenen Leitartikeln und solidem Lexikonwissen besteht, macht mehr Menschen neugierig auf Wissen im weitesten Sinn als je zu vor. | (wst)