"Konsens ist kein Beweis"

Der Bestseller-Autor und Zukunftsforscher John Naisbitt geht mit Europa, der Klimadebatte und den "Grenzen des Wachstums" hart ins Gericht.

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Inhaltsverzeichnis

John Naisbitt, 78, war schon als Vorstandsmitglied von IBM und Kodak sowie als Berater in den Regierungen von John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson tätig, bevor er gemeinsam mit Patricia Aburdene 1982 sein erstes Buch "Megatrends" schrieb. Es verkaufte sich weltweit neun Millionen Mal und blieb zwei Jahre lang in der Bestseller-Liste der New York Times. Naisbitt zog im Jahr 2000 nach Wien und siedelt derzeit nach China über.

Technology Review: Ist es für Sie als Zukunftsforscher ein Problem, dass die Leute Sie eher auf ihre falschen als auf ihre richtigen Vorhersagen ansprechen?

John Naisbitt: Falsche Vorhersagen? Welche sollen das denn sein? Ich wüsste nicht, dass ich schon mal danebengelegen hätte.

TR: In Ihrem Buch "Megatrends 2000" haben Sie zum Beispiel noch Anfang 1990 geschrieben, dass es in Deutschland zunächst keine Wiedervereinigung und in Europa keine gemeinsame Währung geben werde.

Naisbitt: Oh ja, das mit der gemeinsamen Währung war natürlich zunächst einmal falsch. Wobei aber nicht klar ist, dass sie auch nie mehr abgeschafft wird. Der Punkt ist: Der Euro und die EU-weite Zentralisierung laufen so ziemlich allem zuwider, was sonst so in der Welt passiert. Aus diesem Grund bin ich mir auch überhaupt nicht sicher, ob die gemeinsame Währung auch nachhaltig Erfolg haben wird.

Ich persönlich bin von dem Denkansatz überzeugt, dass die Zukunft bereits in der Gegenwart verankert ist. Die Zukunft kann ja nicht einfach an einem schönen Frühlingstag vom Himmel fallen. Wir sind stets und überall von der Zukunft umgeben. Und wer es dann schafft, genau hinzusehen, der kann die Zukunft klar erkennen.

TR: Aber trotzdem haben Sie noch Anfang 1990 für Deutschland keine Wiedervereinigung vorhergesehen, die dann aber tatsächlich noch im Herbst desselben Jahres stattfand.

Naisbitt: Ich weiß. Ich war auch sehr überrascht – aber jeder war überrascht. Und ich glaube, niemand war überraschter als die Deutschen selbst, also die Leute, die mittendrin waren!

TR: Welche Lehre lässt sich daraus ziehen? Wie lassen sich solche Überraschungen vermeiden?

Naisbitt: Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde von mir ursprünglich nicht per se angezweifelt. Ich dachte nur, sie würde letztendlich sehr, sehr schleppend vollzogen werden. Fast alles passiert in der Realität viel langsamer, als wir es vorab einzuschätzen vermögen. Und wenn dann diese Überraschungen kommen – der 11. September, AIDS, die Wiedervereinigung Deutschlands in nie geahnter Geschwindigkeit –, hauen sie uns umso mehr um. Häufig kommt das nicht vor, aber es kommt eben vor. Und dann trifft es uns mit voller Wucht. Nehmen wir noch mal die Wiedervereinigung: Helmut Kohl war wohl von allen am meisten überrascht. Doch er erkannte und nutzte das unglaubliche Potenzial, das er aus den damaligen Umständen schöpfen konnte.

TR: Was sind Ihrer Meinung nach Ihre Volltreffer, und mit welchen Aussagen lagen Sie daneben?

Naisbitt: Daneben lag ich bei der Gleichberechtigung der Frauen. Ich war anfangs der Meinung, die Gleichberechtigungsphase würde in relativ kurzer Zeit abgeschlossen sein, doch es ist immer noch nicht der Fall. Das bedeutet eine persönliche Enttäuschung für mich, obwohl ich eigentlich nicht Partei ergreifen dürfte. Und dann kommen die ganzen Meldungen aus dem Nahen Osten. Erst kürzlich kam es in Saudi-Arabien wieder zu Vergewaltigungen, und wer wird bestraft? Die Frauen! So etwas ist einfach unfassbar!

In solchen Momenten wird klar, dass dieser Weg noch sehr, sehr lang sein wird. Andererseits hat Chile jetzt eine Präsidentin, Deutschland eine Kanzlerin – nebenbei bemerkt ist die Merkel keine gute Staatsführerin, muss ich leider sagen. Sie wirkt sehr starr und untätig. Nach den ganzen versprochenen Reformen und dem angesagten Europakurs passiert jetzt rein gar nichts.

TR: Und was waren Ihre größten Treffer?

Naisbitt: Den größten Coup habe ich mit "HighTech & HighTouch" gelandet, finde ich. Das bedeutet: Für jede neue Technik gibt es entsprechende Reaktionen auf der menschlichen, emotionalen Seite. Dieses Konzept gefällt mir persönlich sehr.

TR: Die Arbeitsweise der Zukunftsforscher hat sich gewandelt …

Naisbitt: Da muss ich kurz unterbrechen: Ich sehe mich selbst nicht als Zukunftsforscher, sondern beobachte und interpretiere vielmehr die Zeichen der Zeit.

TR: Gut, zumindest hat sich die Arbeitsweise der anderen Zukunftsforscher geändert. Bis in die 70er-Jahre haben sie überprüfbare Aussagen dazu gemacht, was passieren wird und was nicht. Heute erstellen sie Szenarien und spielen diese durch.

Naisbitt: Ja, aber da sie ja gar nicht wissen, welches dieser Szenarien eintreten wird, ist dieser Ansatz meiner Meinung nach ziemlich albern. Daher sollte man dieses Konzept erst gar nicht ernst nehmen.

TR: Ist es denn nicht die Aufgabe von Menschen wie Ihnen, Mutmaßungen in verschiedene Richtungen anzustellen?

Naisbitt: Nein, ich studiere und beobachte nur das Hier und Jetzt und ziehe dann meine Schlüsse daraus. Die Welt und die Ereignisse, die in ihr passieren, fesseln mein Interesse. Ich suche nach übergeordneten Zusammenhängen, und dann zeichne ich auf, was ich zu erkennen meine. Sollten sich meine Erkenntnisse dann noch als nützlich erweisen, umso besser! Aber wenn nicht, ist das auch nicht so tragisch.

TR: Sollte es einen Katalog an Qualitätsmerkmalen für Zukunfts- und Trendforschern geben, an denen sie sich messen lassen können?

Naisbitt: Dazu kann ich nicht viel sagen. Ich habe mich noch nie mit Unternehmensberatung auseinandergesetzt und habe das auch nicht vor. Ich definiere mich als unabhängigen Beobachter, der sich zur Aufgabe gemacht hat, die Ereignisse in der Welt in ihrer Ganzheit begreifen zu wollen.