Verriss des Monats: Verschärfte Einblicke

Der große Bruder kommt ganz sanft: Nun sollen auch Empfindungen fernabgefragt werden.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Gerade durften wir staunend erfahren, dass die deutsche Discounter-Kette Lidl ihre Mitarbeiter nicht nur heimlich überwachen ließ – die Beobachtungsprotokolle sind auch noch gespickt mit despektierlichen Kommentaren der Detektive und Vorschlägen zur Verhaltenskorrektur: "Frau N. ist an beiden Unterarmen tätowiert (...) für insbesondere ältere Kunden könnte dies auch als Gefängnis-Tätowierungen gedeutet werden. Man sollte Frau N. anweisen, die Unterarme während der Arbeitszeit, insbesondere an der Kasse, bedeckt zu halten." Die Stasi-hafte Schnüffelei empfinden viele als Mangel an Respekt.

Wobei dieser Angriff auf die Würde noch mit herkömmlicher Technik durchgeführt wurde, dem Lauschen und Lugen aus winzigen Kamera-Stiftchen in der Deckenverkleidung. Aber auch eine nächste Tiefenschicht an Kontrollapparatur steht nun bereit: Gefühlskontrolle.

Vor ein paar Tagen präsentierte die in New York ansässige Firma Exmocare den neuesten Stand der von ihr angebotenen "Emotion Technology", orwellsches Neusprech inklusive. Das BT2-Armband von Exmocare ist, wenn man es positiv betrachtet, etwas wie die Campingversion einer Intensivstation. Was die Firma als "Lösungen fürs Wellness-Monitoring, die sich nahtlos Ihrem Lebensstil anpassen" bezeichnet, ist die Möglichkeit, mit dem uhrenartigen, kleinen Bluetooth-Gadget Körperfunktionen wie Herzschlag, Hautfeuchtigkeit und Bewegungsaktivität unter permanenter Fernbeobachtung halten zu können.

"Seien Sie um Ihre Familie besorgt", fordert uns die Fernfühlfirma auf. Dazu sehen wir einen jungen Mann, der gerade telefoniert und vor sich den Kontrollbildschirm des Exmocare am Rechner checkt. In der anderen Bildhälfte sitzt an einem offensichtlich weit entfernten Ort eine grauhaarige Frau, die ein Buch in der Hand hält und am Handgelenk den Exmocare-Sensor trägt. Sie blickt auf beunruhigende Weise beseligt ins Irgendwo. "Das End' ist nah", befinden sogar die Betreiber des Medizintechnik-Blogs Medgadget: "Wenn man jetzt schon einen Monitor braucht, um jemandes aktuellen Gefühlszustand zu ermitteln, sind wir in großen Schwierigkeiten."

Schon die auf den ersten Blick nützlich scheinende Möglichkeit, Opas Gesundheitszustand aus der Distanz im Auge behalten zu können, verwandelt sich in etwas sehr Merkwürdiges, wenn man Opa nicht mehr besuchen oder anrufen muss, sondern ihn als funktionalen Indikator in den immer weiter anschwellenden Strom an Kommunikationssignalen und Nachrichten einbindet, die einem so entgegenströmen. Wie geht's Mutti, wenn sie einer von 150 RSS-Feeds ist? Um nicht einfach ein weiteres disruptives Element auf seinem Bildschirm zu haben, könnte man Software-Erweiterungen empfehlen, wie sie Börsenhändler benutzen, und sich alarmieren lassen, wenn der Grad an Aufregung – oder eines anderen Gefühls Ihrer Wahl – ein bestimmtes vordefiniertes Maß unter- oder überschreitet.

"Von der Kindheit bis ins Alter möchten wir alle ein gutes Leben haben – glücklich sein, gesund und in Kontakt mit unseren Lieben", heißt es bei Exmocare. Dass ausgerechnet die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft nun zunehmend den outgesourcten und rechnergestützten Formen der liebenden Zuwendung ausgesetzt sind, macht sich bereits bei Kindern auf unangenehm unpädagogische Weise bemerkbar.

Das Exmocare-Armband ist aber nicht nur auf Individuen ausgelegt. Die Benutzeroberfläche erlaubt es, komfortabel ganze Menschengruppen gefühlsmäßig im Blick zu behalten: "Sie können die physiologischen und emotionalen Daten jeder Person von überall auf der Welt aus kontrollieren. Zurückliegende Zustände und Abläufe lassen sich vollständig einsehen ..." Das wird bestimmt auch Führungskräfte der zunehmend globalisierten Unternehmenswelt interessieren.

Wer bisher meinte, dass die genauere Kontrolle der Mitarbeiter in der Niederlassung in Bangalore außerhalb seiner Reichweite liegt, hat nun ein praktisches kleines Tool zur Verfügung, das nicht so martialisch ist wie eine elektronische Fußfessel und sich zweifellos schnell wird so miniaturisieren lassen, dass es sich ganz unscheinbar in Arbeitskleidung oder Bürostühle wird integrieren lassen.

"Stellen Sie sich vor ...", heißt es in dem Prospekt, mit dem Exmocare sein Geschäftsmodell bewirbt, "jede Person in einem Pflegeheim trägt einen Exmocare-Sensor, und jede physiologische Veränderung lässt sich an einem zentralen Monitor sofort ablesen". Schöne Aussichten. Weiter heißt es: "Den Rest müssen wir – vorerst – Ihrer Vorstellungskraft überlassen." Na wunderbar. (bsc)