2040 - die Wüste lebt

Das zu Ende gehende Jahr war keine Sternstunde der Umweltpolitik: Chancen wurden vertan, ungute Trends nicht korrigiert. Technology Review skizziert ein denkbares Szenario, das aus aktuellen Entwicklungen folgen könnte.

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Von
  • Niels Boeing

Im Nachhinein kann niemand genau sagen, ob das Kioto-Protokoll von 1997 schuld gewesen ist. Sicher, zum ersten Mal akzeptiert die Menschheit, dass der Klimawandel, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts unübersehbar geworden ist, die größte Bedrohung der modernen Zivilisation darstellt. Doch es setzt Entwicklungen in Gang, die die Erde drastischer als je zuvor verändern. Denn damit setzt sich in der internationalen Politik die Ansicht durch, der Klimaschutz sei zuerst ein technisches und ökonomisches Problem.

Die Parole heißt fortan: die Emissionen des Treibhausgases Kohlendioxid mit Hilfe von Marktmechanismen und neuen Technologien zu senken. Bereits im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kommt es zu vereinzelten Hungeraufständen in der so genannten Dritten Welt, als die zunehmende Produktion von Biotreibstoffen erstmals die Lebensmittelpreise um bis zu 70 Prozent steigen lässt. Biotreibstoffe erscheinen als naheliegende Antwort auf die Tatsache, dass das Erdöl zur Neige geht und als Treibstoff zusätzliche CO2-Emissionen verursacht – während Sprit aus Agrarpflanzen die CO2-Bilanz nicht verschlechtert, wie man annimmt. Außerdem ist es eine Lösung, die man sofort anpacken kann und die nicht wie die Wasserstoff-Wirtschaft von weiteren technischen Durchbrüchen abhängt.

Obwohl die kritischen Stimmen immer lauter werden, unterschreibt Brasiliens Präsident Lula da Silva 2009 den großen „Amazonas“-Plan. Der weist eine halbe der zwei Millionen Quadratkilometer Regenwald im Amazonas-Gebiet aus, um dort in den folgenden Jahrzehnten gezielt Biosprit-Pflanzen sowie Getreidesorten und Baumplantagen anzubauen. Bereits zu diesem Zeitpunkt schrumpft der brasilianische Amazonas-Regenwald jährlich um eine Fläche von der Größe Jamaikas, etwa 11.000 Quadratkilometer. Von seiner ursprünglichen Ausdehnung sind noch rund 80 Prozent erhalten.

Den Aufschrei der großen Umweltorganisationen weist da Silva entrüstet zurück. „Wir haben genügend Knowhow, um diese Umwandlung nachhaltig und klimaneutral zu gestalten“, erklärt er stolz und verbittet sich in ungewohnt scharfen Worten jegliche internationale Kritik als „Einmischung in die Souveränität“ Brasiliens. Europa und die USA hätten ihre Waldflächen in den vergangenen Jahrhundert ebenfalls in Kulturlandschaften verwandelt und kein Recht, Brasilien diesen Entwicklungspfad zu verbieten.

Gleichzeitig verkündet da Silva eine strategische Partnerschaft mit China und Indien. Ziel sei, mit Hilfe der grünen Gentechnik neue schnellwachsende Baumarten für die warmen Klimazonen zu entwickeln, die im Sinne des Kioto-Protokolls als CO2-Senken gepflanzt werden könnten und so mit Klimaschutzmaßnahmen der Industrieländer verrechenbar seien.

Es sind dann diese drei Schwellenländer, die neuen ökonomischen Schwergewichte der Weltwirtschaft, die 2012 das Nachfolge-Abkommen des Kioto-Protokolls entscheidend bestimmten. Dass der „Global Accord on Climate Protection“ (GACP) nach harten Verhandlungen verabschiedet werden kann, liegt daran, dass die drei neben den Drittweltländern auch die USA sowie Kanada und Russland – auf deren Gebiet sich die riesigen borealen Urwälder des Nordens befinden, mit einer Fläche von 14 Millionen Qudratkilometern – mit ins Boot holen können.

Der GACP sieht erstmals einen weltweiten Waldnutzungsplan vor. Nach dem Vorbild der preußischen Forstverwaltung, die das zu Beginn des 19. Jahrhunderts waldarme Deutschland wieder systematisch und nachhaltig aufzuforstete, werden nun sämtliche Urwälder in den Rettungsplan für den bedrohten Planeten einbezogen. Die Menschheit könne es sich nicht leisten, „weite Teile der Erde ökonomisch und ökologisch brach liegen zu lassen“, mahnt die Präambel des GACP.

Rasch beginnen Kanada und Russland mit dem massiven Anbau von gentechnisch veränderten Kiefern auf abgeholzten Flächen, die von der amerikanischen Firma ArborGen entwickelt worden sind. Sie wachsen doppelt so schnell wie natürliche Kiefern. ArborGen hatte sie mit Fördergeldern des Umwelt-Programms von US-Präsident Barack Obama entwickelt.

In kurzer Zeit zu einem Milliarden-schweren Konzern aufgestiegen, fusioniert ArborGen 2017 mit dem Agrarmulti Monsanto, und zusammen überrunden sie die bisherige Nr. 1 Google. Noch im selben Jahr präsentiert ArborGen Monsanto der Weltöffentlichkeit gleich zwei aufsehenerregende Forschungsergebnisse: Zum einen ist es gelungen, Weizen und Reis mit einem aus Mais extrahierten Gen für die so genannte C4-Photosynthese auszustatten, einer effizienteren Variante als der in den meisten Pflanzen üblichen C3-Photosynthese. Damit können sie mehr Körner produzieren.

Zum anderen hat der Biotech-Gigant eine Koniferenart entwickelt, deren Anteil am Holzstoff Lignin 45 statt bisher 30 Prozent beträgt. Damit eignet es sich besonders gut zur Holzvergasung: Durch Erhitzen wird das Lignin in ein brennbares Gas verwandelt, das wiederum als Kraftstoff genutzt werden kann. Das Time Magazine kürt den Gen-Baum gar zum „Man of the Year“ – und kürt damit nach dem Personal Computer 1982 und der gefährdeten Erde 1988 zum dritten Mal keinen Menschen.

Die „Zweite Grüne Revolution“ beginnt, und sie hat gewaltige Ausmaße. Die borealen Nadelwälder im Norden und die tropischen Regenwälder entlang des Äquators werden nun Schritt für Schritt in gigantische Plantagen umgewandelt. Der Plan scheint aufzugehen: In den 2020er Jahren kommt es weltweit zu Rekordernten bei Weizen und Reis. Zum ersten Mal seit 15 Jahren bleiben die schon notorischen Hungersnöte und Aufstände aus, obwohl die Weltbevölkerung inzwischen auf 7,8 Milliarden Menschen gewachsen ist und bereits die Hälfte aller landwirtschaftlichen Flächen auf der Erde degradiert ist (2005: ca. 40 Prozent).

Der Preis ist ein rapider Verlust an Wildnis. Wohltäter kaufen letzte Flecken Urwaldes auf, um sie einzuzäunen und dem Zugriff der Agroindustrie zu entziehen. In Finnland wird ein ganzes unberührtes Flusstal in einem gigantischen Treibhaus konserviert – für die Nachwelt. „Präservat“ wird zum geflügelten Wort unter Öko-Philantrophen. Der Unterhaltungskonzern SonyDisney kauft gezielt Naturgebiete auf, um darin Freizeitparks für staunende Stadtmenschen zu errichten. Wildnis wird zum Museumsstück. Sie schwindet dramatisch, auch weil in Sibirien und Kanada eine boomende Holzgas-Industrie entsteht, die sich anschickt, den Verbrauch von Erdöl und Erdgas deutlich zu senken.

Die gute Laune verdirbt allerdings der 8. Bericht des Internationalen Klimabeirats 2027: Der CO2-Gehalt der Erdatmosphäre hat die kritische Grenze von 450 Teilen pro Million Luftmoleküle überschritten. Oberhalb dieser Konzentration könne eine Erwärmung der globalen Durchschnittstemperatur um mehr als zwei Grad zum Ende des 21. Jahrhunderts nicht mehr verhindert werden. Besonders alarmierend sei aber der Anstieg des Treibhausgases Methan, verursacht durch die weiter intensivierte weltweite Viehhaltung, die dem massiven Fleischkonsum der neuen Industrieländer geschuldet ist. „Kommen wir doch zu spät?“ fragt CNN.

Die Oberhäupter der G11-Staaten – neben den alten G8-Staaten Brasilien, China und Indien – verkünden auf ihrem Gipfel in Shanghai jedoch, die Strategie der Zweiten Grünen Revolution fortzusetzen. Zudem wolle man nun die Produktion synthetischen Fleischs subventionieren, um die Viehhaltung, die inzwischen 40 Prozent der gesamten Landoberfläche der Erde verschlingt, in den kommenden zehn Jahren auf das Niveau von 2005 – knapp ein Drittel – zu senken. Am Rande des Gipfels gibt die chinesische Regierung die Gründung des Joint Ventures „Trantor Yeast Corporation“ bekannt: Chinesische Forscher haben in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen J. Craig Venter Institute ein Verfahren entwickelt, mit dem aus künstlichen Hefe-Bakterien nahezu jedes Lebensmittel produziert werden kann.

Obwohl es weltweit Proteste gegen die neue Technologie gibt, erweist sie sich als Glück im Unglück: Ein extrem heißer und trockener Sommer in den nördlichen Breiten und ein bis dahin unbekannter Schädling raffen 2029 große Teile der ausgedehnten Genbaum- und Genpflanzen-Plantagen dahin. Denn die entpuppen sich jetzt als wenig widerstandsfähig – eine Gefahr, auf die Ökologen seit langem hingewiesen haben. Im tropischen Gürtel wüten zusätzlich gigantische Waldbrände, gekrönt von einer epochalen Missernte im Neuen Amazonas-Agrarsektor (NAAS). Die Bioenergie-Preise steigen rapide, in Südamerika, Afrika und Südostasien kommt es zu schweren Hungersnöten.

Die UNO-Vollversammlung beschließt einstimmig, die weltweite Produktion der Trantor Yeast Corporation mit einer Finanzspritze von 50 Milliarden Euro binnen eines Jahres zu verdoppeln. Außerdem sollen alle Restbestände der Urwälder im Norden und in den Tropen sofort abgeriegelt und in Naturreservate verwandelt werden, um einen Genpool für neue Pflanzenzüchtungen zu erhalten. Als wichtige Quelle für die Botaniker entpuppen sich dabei ausgerechnet die Präservate.

Diese Maßnahmen bringen aber nur wenig Erleichterung, denn das Nutzwaldsterben im Norden greift auch auf die verbliebenen Urwälder über, weil deren Ökosysteme durch die Biospritplantagen nachhaltig geschwächt sind. Der NAAS wird zur sengenden Savanne, die wiederum Millionen Bauern in den Amazonas-Regenwald treibt. Der wird nun in einem nie dagewesenen Tempo gerodet, um neue Agrarflächen zu gewinnen.

2040 sind von den Urwäldern, die zu Beginn des Jahrhunderts noch gut 16 Millionen Quadratkilometer ausmachten – ein Drittel des Waldes weltweit –, 13 Millionen verschwunden. Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche der Erde beträgt nur noch 40 Millionen Quadratkilometer, deutlich weniger als am Ende des 20. Jahrhunderts. Der Rest ist versalzen oder der Erosion zum Opfer gefallen. Der Welthandel ist eingebrochen, weil nicht ausreichend Biotreibstoffe zur Verfügung stehen – Erdöl ist ohnehin schon lange knapp geworden und auch Erdgas hat seinen Peak bereits überschritten.

Zum ersten seit Menschengedenken sinkt die Weltbevölkerung wieder. Vor allem in Afrika sind ganze Landstriche verdorrt und entvölkert, und die Bevölkerung etwa der Westafrikanischen Agglomeration (dem Stadtkorridor zwischen den früheren Accra in Ghana und Benin-City in Nigeria) ist von ihrem Höchststand von 69 Millionen im Jahre 2029 trotz des Flüchtlingsstroms auf 35 Millionen geschrumpft. Aber auch in den alten Industriestaaten sind Millionen Hungertote zu beklagen.

Zehn Jahre später sind viele Biosprit- und Genbaum-Plantagen, aber auch Milliarden Hektar Weideland aufgegeben worden und verwandeln sich allmählich in Heidelandschaften, Steppen und Savannen. Was von der wilden unberührten Natur vergangener Jahrhunderte geblieben ist, sind Erzählungen wie Jack Londons „Ruf der Wildnis“ oder Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. (nbo)