Die geborenen Spieler

Die erste Generation der Computer-Kids wird erwachsen. Was unterscheidet sie von uns – und wie werden diese Unterschiede künftig das Wirtschaftsleben prägen?

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Manchmal sind sie anstrengend, manchmal auch ein wenig unheimlich: Teenager, die sich nur nach wiederholter Aufforderung von PC oder Spielkonsole lösen, um dann – unter dem Esstisch – per SMS weiter mit den Kumpels zu kommunizieren. Oder Kinder, die kaum lesen und schreiben können, sich aber in atemberaubender Geschwindigkeit durch das Menü des gerade erst gekauften Mobiltelefons hangeln, während man selbst stundenlang nach dem Einschaltknopf gesucht hat.

Sie lesen Blogs statt Zeitungen, sie lernen sich online kennen in Chats und Foren, lange bevor sie sich zum ersten Mal physisch miteinander verabreden. Sie besorgen sich ihre Musik online – oftmals illegal – statt in einem Laden, und sie benutzen Instant-Messaging-Software, statt zum Telefon zu greifen. "Digital Natives" werden diese Kinder und Jugendlichen in der einschlägigen Literatur genannt, "digitale Eingeborene" in Abgrenzung zu den "digitalen Immigranten" der Über-30-Jährigen – ein Leben ohne Internet und Handy haben die nach 1980 Geborenen nie kennengelernt.

Man könnte geneigt sein, das bestenfalls für ein Thema von Lehrern, Sozialpädagogen und Medienforschern zu halten. Wäre da nicht die Tatsache, dass die ersten Vertreter dieser Generation ihr Studium oder ihre Ausbildung jetzt hinter sich gebracht haben und nun ins Management aufrücken – in zehn bis zwanzig Jahren sind einige von ihnen auch in den Führungspositionen der Wirtschaft angekommen. "Und die bringen Fähigkeiten mit, die sie sich in Tausenden von Stunden bei Computerspielen perfektioniert haben", sagt der IBM-Wissenschaftler Moshe Rappoport. "Das verändert die Art und Weise, wie Business in den nächsten Jahren funktionieren wird, ganz grundsätzlich."

Rappoport, im korrekten schwarzen Anzug, mit grauen Haaren und einem nicht minder grauen, langen Vollbart, wirkt auf den ersten Blick nicht wie einer, der sich hauptamtlich mit computeraffinen Jugendlichen beschäftigt. Seit 2001 arbeitet der Informatiker jedoch als "Executive Technology Briefer" am IBM-Forschungszentrum in Zürich. Im "Global Technology Outlook" von IBM, einer jährlichen Bestandsaufnahme und Strategiediskussion der IBM-Führungsmannschaft, ist Rappoport dafür zuständig, die sozioökonomischen Trends zu beschreiben, die das Geschäftsumfeld des Konzerns in Zukunft bestimmen. In den letzten 20 Jahren hat IBM erfahren müssen, dass es nicht reicht, gute Technologie anzubieten. "Unter Umständen kann man sehr gute Technologie anbieten, aber es ist trotzdem nicht das Richtige, weil die Bedürfnisse der Kunden aus der Wirtschaft mittlerweile ganz andere sind", sagt Rappoport. "Das hätte IBM 1993 fast die Existenz gekostet." Nur durch einen radikalen Kurswechsel konnte sich der durch das zusammengebrochene Geschäft mit Großrechnern und das Aufkommen billiger PC-Nachbauten schwer angeschlagene Konzern damals retten.

Damit das nicht wieder passiert, analysiert Rappoport unter anderem die Entwicklung der Digital Natives. Und kommt dabei zu weitreichenden Folgerungen: "Die meisten Computerspiele präsentieren dem Spieler sehr viele multimediale Informationen", erklärt der Informatiker, "aber nicht alle diese Informationen sind wesentlich, um das Spiel zu gewinnen." Ganz wichtig für einen erfolgreichen Spieler sei deshalb die Fähigkeit, in Echtzeit zu entscheiden, welche Information wesentlich ist, was notwendig ist, um zu gewinnen, und was unwichtig ist. Spieler müssten außerdem bereit sein, Risiken einzugehen – wer zu vorsichtig spielt, verliert. Und sie müssten verlieren können: "Du tust, was du kannst, aber du gewinnst eben nicht immer. Du kannst dich aber nicht jedes Mal krank ärgern, wenn du verloren hast, sondern spielst weiter."

Wenn der Spielspaß wesentlich wichtiger würde als das Erlebnis, zu verlieren, würden die Erfahrungen und Fähigkeiten aus den Computerspielen zu einem völlig anderen psychologischen Grundmuster führen als bisher, argumentiert Rappoport, und damit auch zu einer anderen Form von Management: "Man nimmt sich nicht mehr die Zeit, alle Informationen, die zur Verfügung stehen, zu studieren. Man probiert lieber aus – probieren geht schneller als studieren." Weil das Risiko im Spiel ja kein wirkliches Risiko für die spielende Person bedeutet.

"Das wird sicherlich ein Menge Konsequenzen haben", sagt Maria Bezaitis. Die Leiterin des "People and Practices"-Labors von Intel erforscht die Techniknutzung von sechs- bis zwölfjährigen Kindern. "Wir sehen hier eine völlig neue Art von Bildung", resümiert die Soziologin. "Wir nennen die Kinder post-alphabetisch. Diese Kids sind in der Lage, die Grenzen verschiedener Technologien einfach so zu überschreiten – ohne jede Hemmung. Sie mischen munter Text, Video, Musik und Bilder, ohne groß darüber nachzudenken." Mit Rückschlüssen hält sich die Soziologin aber zurück: "Wir wissen noch nicht genug darüber, um die Konsequenzen wirklich zu verstehen."

Obwohl es in den Medien eine Menge Berichte zu den Digital Natives gäbe, findet Bezaitis das Urteil der Experten oft zu voreilig: "Wir lesen immer mehr über Internetsucht und Aufmerksamkeitsstörungen – und wie die neuen Kommunikationstechnologien diese Probleme verursachen. Aber wir wissen noch nicht genug darüber. Es sieht wie Internetsucht aus, wenn diese Kinder und Jugendlichen viel Zeit online verbringen. Aber sie machen da eine Menge innovativer Dinge – ihre Beziehung zum Internet ist sehr interaktiv." Das Internet eröffne besonders Jugendlichen neue Möglichkeiten der sozialen Teilhabe. Und es sei wichtig, diese neuen Sozialtechniken erst mal in einem positiven Licht zu sehen.

Der Einfluss der Digital Natives sei jedoch bereits heute spürbar, hält Rappoport dagegen. "Früher ist ein Kunde, wenn er einen neuen DVD-Player kaufen wollte, in einen Laden gegangen. Da standen eine ganze Menge Geräte – und der Kunde ist zu einem Verkäufer gegangen und hat sich beraten lassen." Heute könne das ganz anders aussehen, die Macht würde sich vom Verkäufer zum Käufer verschieben: "Auch Digital Natives kommen in den Laden und lassen sich ein Gerät empfehlen. Aber dann machen Sie mit dem Smartphone ein Foto davon und rufen eine Website mit Kundenrezensionen oder ein Forum auf. Dort lesen sie direkt, was andere für Erfahrungen damit gemacht haben. Und dann sehen sie noch, dass es ein paar Kilometer weiter einen anderen Laden gibt, wo man dieses Gerät für 100 Euro weniger kaufen kann." Die Firmen würden natürlich versuchen, sich dagegen zu wehren, sagt Rappoport, etwa durch Zurückhalten von Informationen. "Aber das wird nicht funktionieren. Sie müssen schneller werden, sonst werden sie von den jungen Leuten als Dinosaurier angesehen."

Dan Rasmus, Director of Business Insights bei Microsoft, ist wesentlich weniger pessimistisch. Er lobt vor allem die "Offenheit und Vernetzung" der Digital Natives: "Das ist die erste Generation von Wissensarbeitern, die tatsächlich global vernetzt ist", sagt Rasmus. Die Wahrnehmung, dass es keine Grenzen gibt – weder zeitlich noch räumlich –, unterscheide sich sehr stark von jener der Baby Boomer, die jetzt in den Führungspositionen säßen: "Ich kenne Leute, die verwalten einen Betrieb an der Westküste der USA von Ungarn aus. Die unterschiedlichen Zeitzonen sind für diese Leute kein Problem – die leben einfach damit."

Ein wichtiger Punkt, den die Unternehmen beim Umgang mit Digital Natives allerdings beachten müssten, sei ihr großes Vertrauen in die eigenen sozialen Netzwerke. "Wir wissen aus unserer Forschung, dass Digital Natives in geschäftlichen Dingen wahrscheinlich eher auf Menschen aus ihrem persönlichen Netzwerk hören als auf Kollegen aus dem eigenen Betrieb", sagt Rasmus. Auf der einen Seite gebe es dabei natürlich Probleme mit der Sicherheit und dem Umgang mit geistigem Eigentum. Regierungen, Versicherungen oder Banken machten sich darüber eine Menge Sorgen. Aber es gebe auch Unternehmen, die jene neuen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, sehr positiv aufnähmen. Denn neue Ideen könnten so sehr schnell und kostengünstig getestet und diskutiert werden.

In seinen "Office Labs" forscht Microsoft zudem an Soft- und Hardware, die das Optimum aus den Fähigkeiten der Digital Natives herausholen sollen. Die einzelnen Arbeitsplätze etwa werden in Zukunft nicht mehr mit einem, sondern eher mit einem Halbrund aus drei Monitoren ausgestattet: Microsoft hat dazu mit der Fraunhofer-Gesellschaft Studien durchgeführt. "Das Ergebnis war, dass Multi-Monitor-Arbeitsplätze die Produktivität steigern", sagt Rasmus. Denn mehrere Monitore erleichtern die Segmentierung: Statt sich durch verschiedene Fenster zu klicken, kann der Mitarbeiter seinen Kalender auf eine Seite stellen und den zu bearbeitenden Text auf die andere. Durch das parallele Öffnen von Anwendungen und das Verteilen der Fenster auf feste Plätze werde die Konzentration nicht ständig auf neue Objekte fokussiert. So könnten gleichzeitig mehr Informationen im Blick behalten und verarbeitet werden.

Im Zentrum der Forschung steht zudem die Zusammenarbeit flexibler Teams: Große Multi-Touch-Displays etwa werden für Besprechungen verwendet, im Hintergrund laufende Software sorgt dafür, dass man zu jeder Zeit an jedem Ort alle für die jeweilige Aufgabe relevanten Informationen präsentiert bekommt, die Präsentation der eigenen Ideen und Ergebnisse soll zudem möglichst einfach, direkt und natürlich ablaufen – kein technischer Firlefanz soll vom Geschäft ablenken.

Der Wandel der Geschäftswelt ist anscheinend nicht aufzuhalten: In den kommenden Jahren werden die Digital Immigrants, die jetzt allmählich ins Rentenalter kommen, mehr und mehr von Digital Natives ersetzt werden. "Das könnte gewaltige Auswirkungen haben", warnt Rappoport hartnäckig. "Wir haben noch gewusst, dass Computer Fehler machen. Aber die jungen Leute haben das oft noch nicht erlebt. Sie werden zu schnell handeln, ohne dass sie die Risiken voll verstehen." Vielleicht, meint der Zukunftsexperte, sei die Finanzkrise ja bereits ein Vorbote dieser Entwicklung.

Hat er eine Lösung für dieses Problem? Ja, sagt er, und sie sei verblüffend simpel: "Lassen Sie ältere Menschen mit viel Erfahrung und junge, ehrgeizige Menschen zusammenarbeiten", sagt Rappoport. Das ergebe oft ein Powerteam: "Weil der eine das denkt, was der andere gar nicht denken kann." (bsc)