Jagd nach dem Gott-Partikel

Forscher am CERN brachten uns das WWW, und jetzt könnte erneut eine globale Computer-Infrastruktur dort ihren Ausgang nehmen: das Grid, in dem sich Rechenkraft nach Belieben abrufen lässt

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Inhaltsverzeichnis

Glas, Beton und rostrote Stahltüren prägen den nüchternen 80er-Jahre-Zweckbau. Das Mekka der Teilchenphysiker aus aller Welt wirkt schlicht, aber wer hier arbeitet, hat sowieso Höheres im Sinn - nur die sieben Champagnerflaschen auf einem Stahlschrank lassen erahnen, dass hier gelegentlich Nobelpreise gefeiert werden.

"Wenn Sie Zeit haben, müssen Sie unbedingt zum Punkt fünf fahren", schwärmt Reinhard Stock. "Das ist einfach erschütternd ästhetisch. 11 000 Tonnen Stahl, diese riesige Menge an Rohmaterial. Und dann dieser Kontrast zwischen harter Technologie mit Präzision bis ins letzte Detail und dem Geist, der da drinsteckt. So etwas haben Sie noch nicht gesehen."

Stock ist Überzeugungstäter, seit 35 Jahren kommt der Frankfurter Professor immer wieder in die Nähe von Genf. Sein Ziel ist das Institut, das vor 50 Jahren als "Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire" gegründet wurde, mittlerweile "Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire" heißt, aber das Akronym CERN nicht ablegen mochte, obwohl es längst eine weltweite Organisation ist. Stock will Elementarteilchen jagen. Mit Stirnglatze, wollener Pullunderweste und der Lesebrille, die an einem Band um seinen Hals hängt, entspricht der Mann mit der sanften Stimme und dem freundlichen Lächeln dem Klischee vom weltabgewandten Gelehrten.

Doch der weltferne Eindruck täuscht - Stock und Kollegen leisten organisatorische Schwerstarbeit. In einen 27 Kilometer langen Tunnel, der 100 Meter tief unter der Erde liegt, bauen die Forscher zurzeit zwei neue Beschleunigerröhren für Hadronen Kernteilchen, die an der "starken Wechselwirkung" teilnehmen. Die Röhren des "Large Hadron Collider" (LHC) werden umschlossen vom stärksten und größten Magneten der Welt. Mit vier tonnenschweren Apparaturen wollen die Physiker unter anderem überprüfen, ob das seit 30 Jahren diskutierte Standardmodell der Teilchenphysik richtig ist. Danach sollten unter bestimmten Umständen so genannte Higgs-Bosonen nachweisbar sein. Am CERN soll die Frage nach der Existenz des sagenumwobenen Teilchens nun definitiv entschieden werden. Gelingt es, die von manchem Forscher ehrfurchtsvoll "Teilchen Gottes" genannten Partikel zu finden, stimmt die Theorie. Gelingt es nicht, muss die Zunft Teile der Theorie über den Haufen werfen.

Der Aufwand, lächerlich winzige Teilchen aufeinander prallen zu lassen, ist immens. Doch noch viel größer ist die Herausforderung, die gigantischen Datenmassen zu verarbeiten. Die esoterisch anmutende Grundlagenforschung könnte ein höchst reales Nebenprodukt haben, das die Computerwelt grundlegend verändert: Zusammen mit Konzernen wie IBM und Hewlett-Packard bauen die CERN-Forscher an einem globalen Meta-Netzwerk von Rechnern, die über Hochgeschwindigkeitsleitungen zusammengeschaltet sind. Das LHC-Computing- Grid soll eines Tages funktionieren wie ein virtueller Supercomputer, der Forschern in aller Welt Rechenleistung zur Verfügung stellt, um die LHC-Experimente auszuwerten.

Auf der französischen Seite der Grenze - eine gute halbe Stunde Autofahrt näher an der majestätischen Kulisse der Alpen - liegt der von Physiker Stock so viel gepriesene Punkt fünf. Dem Besucher präsentiert sich von außen eine unscheinbare beige Werkshalle, doch wer diese Halle betritt, kann die Begeisterung des Forschers nachempfinden: In einem grünen Gerüst hängen rot lackierte zwölfeckige Scheiben, aufgeteilt in drei konzentrische Ringe mit einem Durchmesser von 15 Metern. Filigrane Sensorelektronik glänzt im Scheinwerferlicht wie exotischer Tempelschmuck. Die Scheiben werden im montierten Endzustand eine nicht minder gewaltige Röhre abschließen, die nur einige Meter weiter zusammengesetzt wird. Deren glänzende Außenhülle verbirgt einen supraleitenden Magneten, der im eingeschalteten Zustand ein Magnetfeld von vier Tesla produzieren wird - das entspricht der 80 000fachen Stärke des durchschnittlichen Erdmagnetfeldes.