Neue Theorien über das menschliche Gehirn

Jeff Hawkins, Chief Technology Officer von Palm und Gründer der Handheld-Pioniere Palm Computing und HandSpring, hat als Außenseiter eine allumfassende Theorie über die Funktionsweise der menschlichen Großhirnrinde vorgelegt.

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Jeff Hawkins ist Chief Technology Officer von Palm und Gründer der Handheld-Pioniere Palm Computing und HandSpring, wo er sowohl den Palm Pilot als auch das Treo-Smartphone erfand. Heutzutage ist die Entwicklung mobiler Geräte für Hawkins allerdings nur noch ein Teilzeitjob. Seine wahre Leidenschaft ist die Neurowissenschaft. Nach Jahren des Forschens und Nachdenkens zum Thema legte er nun eine allumfassende Theorie über die Funktionsweise der menschlichen Großhirnrinde vor. Dabei geht es hauptsächlich um das so genannte "hierarchisch-zeitliche Gedächtnis" ("Hierarchical Temporal Memory", HTM), das erklären könnte, wie das Gehirn in einer komplexen Welt Muster erkennen, ableiten und vorhersehen kann.

Sollte Hawkins Recht behalten, hätte er in einem Gebiet reüssiert, auf dem die professionelle Gehirnforschung bislang versagte. In diesem Jahr gründete Hawkins eine Firma namens Numenta, die aus seiner HTM-Theorie abgeleitete Technologien entwickeln soll. Technology Review sprach mit Hawkins auf der Emerging Technology Conference.

Technology Review: Wie unkonventionell ist Ihr HTM-Modell tatsächlich? Wie würde ein Hirnforscher reagieren, wenn ich ihn damit konfrontieren würde?

Jeff Hawkins: Einige würden sicher sofort sagen, dass das eine wichtige Arbeit sei. Es gibt einige sehr berühmte Neuowissenschaftler, die mein Buch On Intelligence gelesen haben und anschließend sehr positiv kommentierten. Aber um die Wahrheit zu sagen: Es gibt auch einige Leute, die das nicht so sehen. Die sagen zwar nicht, dass ich mich nicht mit der Hirnforschung auskennen würde. Was ihnen jedoch nicht gefällt, ist die angebliche Dreistigkeit, mit der hier jemand sagt, er habe ein solch großes Problem wie die Theorie über die grundlegende Arbeitsweise des Gehirns gelöst. Ich höre immer wieder, dass es nicht so einfach sein könne. Viele Neurowissenschaftler glauben nicht, dass der Neokortex einen einheitlichen Algorithmus gebraucht. Sie wissen zwar nicht, wie die Großhirnrinde funktioniert, haben aber ein Problem damit zu glauben, dass beispielsweise das Sehen eigentlich das gleiche ist wie das Hören.

TR: Es klingt aber auch durchaus weit hergeholt. Sie glauben, dass die Hirnrinde ein "Belief Propagation Network" sei, also eine Art von Maschine, die mehr oder weniger akkurate Ideen von der Welt generiert und verteilt. Wie hätte sich ein solches Ding entwickeln können?

Hawkins: So schwer war das nicht. Nichts in der Natur entsteht von heute auf morgen. Der Neokortex entwickelte sich aus Strukturen, die es vorher schon gab. Ein Reptil hat bereits ein sehr fortschrittliches Gehirn. Die Großhirnrinde machte diesen Denkapparat aber besser. Sie half frühen Säugetieren, ein klein bisschen in die Zukunft sehen zu können. Das Säugetier konnte sich sagen: "Ich erkenne diesen Ort. Ich weiß, dass es um die Ecke etwas zu fressen gibt." Diese Säugetiere waren derart erfolgreich, dass sich ihre Großhirnrinde sehr schnell entwickelte. Das Gehirn fügte also immer mehr "Schaltkreise" hinzu. Warum die Großhirnrinde aber ein "Belief Propagation Network" ist, kann ich ihnen nicht erklären. Ich weiß es nicht. Es ist aber so.

TR: Ist das höhere Bewusstsein, also das, was Philosophen manchmal "seiner selbst bewusst" nennen, ein Nebenprodukt des HTM?

Hawkins: Ja. Ich glaube inzwischen, dass ich verstanden habe, was das Bewusstsein ist. Dabei geht es um zwei Elemente: Erstens gibt es ein Bewusstsein, das uns sagt, dass wir "jetzt an diesem Ort" sind. Dadurch können wir uns aktiv an etwas zurückerinnern. Wenn man jedoch Fahrrad fährt, nutzt man dieses erklärende Gedächtnis nicht, weil man sich ja nicht genau daran erinnern kann, wie man ein Fahrrad zu balancieren hat. Wenn ich frage, ob ich mich gerade mit jemandem unterhalte, kann ich mit "ja" antworten. Daraus ergibt sich für mich folgendes Gedankenexperiment: Wenn ich das erklärende Gedächtnis ausschalte, habe ich dann noch ein Bewusstsein? Ich glaube nicht. Es verschwindet einfach.

Aber es gibt noch ein zweites Element des Bewusstseins -- das, was Philosophen und Neurowissenschaftler "Qualia" nennen, das Gefühl, lebendig zu sein. Qualia bedeuten aber nicht für jeden das gleiche. Daher frage ich gerne, warum sich etwas überhaupt nach etwas anfühlt. Das lässt sich dann leichter verstehen. Qualia haben mit der Welt selbst zu tun: Ich nehme die Welt auf eine bestimmte Art wahr, weil sie so auch tatsächlich ist.

TR: Hat ein Delphin ein Bewusstsein?

Hawkins: Er besitzt eine hoch entwickelte Großhirnrinde -- ich würde wetten, dass er eines hat. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Delphinen ist, dass ihre motorischen Fähigen sehr eingeschränkt sind. Sie können etwas ergründen, aber ihr motorisches Verhalten kaum kontrollieren. Stellen Sie sich das vor: Die Welt, die sie wahrnehmen, ist vermutlich sehr bunt und reich. Aber sie können diese Beobachtungen nicht miteinander kommunizieren. Sie haben keine echte Sprache, nur ihre Lieder. Sie haben den Körper eines Roboters. Alles, was sie tun können, ist im Meer zu schwimmen.

TR: Numenta will Technologien entwickeln, die auf HTMs aufbauen. Warum? Schließlich laufen Milliarden natürlicher HTMs durch die Gegend. Und wenn wir neue brauchen, vermehren wir uns einfach.

Hawkins (lacht): Wir wollen ja keine künstlichen HTMs schaffen, um Dinge zu tun, die die Menschen bereits beherrschen. Ein künstliches HTM könnte aber andere Dinge ereichen. Mit der Technik könnten mit Hilfe neuartiger Sensoren Muster erkannt werden. Man könnte Wettersensoren auf der ganzen Welt platzieren und sie dann in ein HTM füttern. Es würde das Wetter dann so wahrnehmen, wie ein Mensch ein Gebäude wahrnimmt. HTMs könnten in höheren mathematischen Dimensionen denken oder sich überlegen, wie Proteine gefaltet werden. Man könnte eine ganze sensorische Welt voller Dinge schaffen, die der Mensch selbst schlecht wahrnehmen oder vorhersehen kann, weil wir daran nicht angepasst sind. Die Leute sagen mir ständig, dass ich besser nicht über solche Sachen reden sollte, weil die Menschheit dann denkt, ich sei verrückt. Ich antworte dann immer, dass ich daran glaube, dass es wirklich so kommen wird.

Interview: Jason Pontin; Übersetzung: Ben Schwan (wst)