"Schlechte Stimmung, lange Röcke"

Der US-Mathematiker und Sachbuchautor John Casti hat eine verblüffend simple Methode entwickelt, um die Zukunft vorherzusagen.

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Der US-Mathematiker John Casti, geboren 1943, arbeitet und lebt großteils in Wien. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Analyse und Simulation komplexer Systeme. Zudem ist er Mitbegründer des "Kenos Circle", einer Vereinigung von Wissenschaftlern, die sich mit der Entwicklung von Zukunftsszenarien beschäftigt.Bekannt wurde Casti aber vor allem als Autor höchst erfolgreicher populärwissenschaftlicher Bücher wie "Paradigms Lost" und "Szenarien der Zukunft". Sein neues Buch soll im kommenden Frühjahr erscheinen.

Technology Review: Professor Casti, in Ihrem demnächst erscheinenden Buch behaupten Sie, die Zukunft vorhersagen zu können. Klingt aufregend.Verraten Sie uns doch bitte Ihr Geheimnis ...

Casti: Was mich in meinem Buch interessiert, sind kollektive gesellschaftliche Phänomene, nicht spezifische Einzelereignisse. Meiner Ansicht nach kann niemand indivduelle Ereignisse zuverlässig vorhersagen. Die passieren einfach - aber sie passieren in einem Kontext. Wie bei der Wettervorhersage kann man prognostizieren, dass bestimmte Klassen von Ereignissen mit höherer Wahrscheinlichkeit eintreten als andere. Die Ursache dafür liegt in dem, was ich kollektive gesellschaftliche Stimmung nenne - wie Menschen als Gruppe die Zukunft sehen, ob sie pessimistisch oder optimistisch sind oder sich einfach unsicher fühlen. Die grundlegende Annahme lautet, dass die kollektive gesellschaftliche Stimmung die Ursache gesellschaftlicher Ereignisse ist. Kurzfristig können das zum Beispiel Mode- oder Musiktrends sein, mittelfristig Ereignisse wie der Ausgang von Wahlen - bis hin zu langfristigen Entwicklungen wie die Veränderung einer Zivilisation.

Wie messen Sie gesellschaftliche Stimmungen?

Casti: Ein gutes Maß sind Aktienindizes, wie der Dow Jones. Diese Indizes repräsentieren die Wetten der Menschen auf die Zukunft. Ich vertraue zum Beispiel keinen Meinungsumfragen - da können die Leute alles erzählen. Aber wenn sie mit einem Investment ihr Geld aufs Spiel setzen, also etwas, was ihnen wirklich wichtig ist, so ist das etwas anderes.

Wie beeinflussen Stimmungen die Zukunft?

Casti: In Zeiten positiver beziehungsweise negativer gesellschaftlicher Stimmung sind bestimmte Typen von Ereignissen wahrscheinlicher als andere - das gilt für kulturelle, aber auch für ökonomische oder politische Phänomene. Das Muster, dem die Stimmungsschwankungen folgen, ist eine so genannte Elliot-Welle - und in allen Zeitperioden gleich, wie bei einem Fraktal. Meiner Ansicht nach befinden wir uns an einem Wendepunkt, ungefähr seit dem Jahr 2000, von einem stark positiven Trend zu einer negativen Entwicklung, die wahrscheinlich einige Jahrzehnte anhalten wird.

Worauf stützt sich Ihre Annahme, dass Stimmungen tatsächlich ursächlich mit realen Ereignissen zusammenhängen - und dass es sich nicht bloß um statistische Korrelationen handelt?

Casti: Die gesellschaftliche Stimmung führt zu gesellschaftlichen Ereignissen - und nicht umgekehrt. Würde es sich lediglich um Korrelationen handeln, hätten wir nicht derart konsistente Muster über alle Kulturen hinweg.

Wie entsteht eine gesellschaftliche Stimmung nach Ihrer Theorie?

Casti: Es beginnt auf der individuellen Ebene, in den älteren Teilen des Gehirns, im limbischen System. Im Menschen ist eine Art Herdenmentalität angelegt: Menschen schließen sich in Gruppen zusammen, entwickeln ein Gruppendenken, weil dies einen evolutionären Vorteil bietet. Wir sehen dieses Verhalten etwa im Business ständig. Die Leute sagen sich: Nun, jeder glaubt das - also mache ich das Gleiche, weil das sicherer ist. Wenn es schief läuft, haben sie eine Entschuldigung. Wenn Individuen anfangen, etwas zu glauben, verbreitet sich dieser Glaube in der Bevölkerung wie eine Art Krankheit. Wenn Sie mir etwas erzählen, infizieren Sie mein Gehirn - vielleicht bin ich resistent, vielleicht sage ich aber auch "stimmt eigentlich"- und gebe es an den Nächsten weiter. Wie sich individuelle Einstellungen zu einer gesellschaftlichen Stimmung verdichten, ist ein sehr geheimnisvoller Prozess, ähnlich einem Phasenübergang. Die Stimmung hat Konsequenzen dafür, welche Bücher die Menschen lesen, welche Musik sie hören. Langfristig gilt das auch für die politische Einstellung, für die Religion und letztlich das gesamte Leben.

Zum Beispiel?

Casti: Ein Chart in meinem Buch zeigt: Wann immer zum Zeitpunkt einer Präsidentschaftswahl die gesellschaftliche Stimmung, gemessen auf Basis der Finanzmarktindizes, negativ ist, wird der amtierende Präsident abgewählt - unabhängig davon, ob er nun einen guten oder schlechten Job gemacht hat: Die Gesellschaft ist unglücklich, und diese Stimmung sucht sich ein Ventil.

An welchem Punkt der Stimmungskurve stehen wir heute?

Casti: Ich würde die Stimmung in den USA, aber auch in Europa, als relativ negativ beschreiben. Was man in solchen Perioden regelmäßig sieht, ist eine Art Polarisierung der Gesellschaft - ein Auseinanderfallen in verschiedene soziale Gruppen. Das zeigt sich etwa im enormen Anstieg des religiösen Fundamentalismus in Amerika. In Zeiten der Polarisierung findet mehr Aktivität an den Rändern statt und weniger in der Mitte der Gesellschaft. Wenn die gesellschaftliche Stimmung negativ ist, steigt auch die Angst vor Ausländern. Die Menschen fühlen sich bedroht, sie schotten sich ab. Darin liegt auch der Grund für die Probleme mit der europäischen Einheit: Die EU entstand in Zeiten positiver gesellschaftlicher Stimmung, als die Menschen optimistisch und hoffnungsvoll waren. Heute wollen die Leute ihr eigenes Land, ihre eigene Kultur vor Ausländern beschützen. Meiner Ansicht nach wird die EU diese Entwicklung nicht überleben, sondern als gescheitertes Experiment in die Geschichte eingehen.

Welche praktischen Konsequenzen hat Ihre Theorie?

Casti: Zunächst geht es mal darum, ob sie überhaupt stimmt. Meine Hypothese widerspricht ja diametral der konventionellen Sicht, dass Ereignisse und Handlungen bestimmen, wie Menschen fühlen. Wenn die Theorie stimmt, ist es genau umgekehrt. Angenommen, Sie interessieren sich für gesellschaftliche Ereignisse in einem bestimmten Zeitraum - zum Beispiel für die Modetrends im nächsten Jahr. Dann könnten Sie sich die Marktbewegungen anschauen und fragen, in welcher Phase wir uns gerade befinden.Wenn eine negative Stimmung herrscht, hat das auch für die Mode bestimmte Implikationen. Während negativer Stimmungen ist es zum Beispiel wahrscheinlicher, dass Frauen mehr lange Röcke und dunkle Farben tragen wollen. Das könnte also eine nützliche Information für Sie sein, wenn Sie mit Mode zu tun haben.

Erlaubt Ihre Theorie auch die Vorhersage von Technologietrends?

Casti: Gewisse technologische Durchbrüche, zum Beispiel die Erfindung des Transistors, sehe ich als Einzelereignis. Aber Sie können mit der Methode durchaus Trends prognostizieren.Nehmen wir zum Beispiel Energie: In Zeiten negativer Stimmung werden die Menschen wahrscheinlich weniger Energie nachfragen, sie würden weniger reisen und weniger Energie für unnütze Dinge konsumieren. In solchen Perioden wird der Ölpreis tendenziell sinken.

Das klingt alles etwas simpel. Wollen Sie tatsächlich den Lauf der Geschichte aus der Massenpsychologie erklären?

Casti: Ich bin sehr beeinflusst durch Elias Canettis Buch "Masse und Macht". Ich sehe die Masse als einzelne Einheit, nicht als Menge von Individuen. Das Verhalten einer Masse unterscheidet sich sehr vom Verhalten des Individuums. Es geht um eine Art Herdenmentalität. Das Problem mit dieser Mentalität ist nur: Wenn alle etwas glauben, ist das exakt der Zeitpunkt, wo man beginnen sollte, in die andere Richtung zu laufen.

Wie kann man solche Wendepunkte erkennen?

Casti: In meinem Buch spreche ich vom "Magazin-Cover-Indikator": Sobald es irgendeine Art Trend gibt und Sie diesen Trend auf dem Titelblatt eines größeren Publikumsmagazins sehen, dann heißt das: Der Trend ist schon vorbei. Diese Methode funktioniert fast immer.

Aber wie erklärt Ihre Theorie das Umkippen gesellschaftlicher Stimmungen?

Casti: Auf den Finanzmärkten zum Beispiel herrscht eine dynamische Spannung zwischen Angst und Gier. Wenn die Kurse im Keller sind, gibt es immer Leute, die eine günstige Gelegenheit sehen und kaufen - und dann entsteht ein Gegentrend. Wenn die Kurse steigen, gibt es aber wiederum Leute, die ihre Aktien verkaufen - und damit den Kurs wieder nach unten drücken. Es geht um ein Zusammenspiel von Optimisten und Pessimisten.

Sie sprechen von Finanzmärkten, nicht von gesellschaftlichen Phänomenen ...

Casti: Ich würde sagen: Das ist ein Gesetz der menschlichen Natur. Die Finanzmärkte spiegeln meiner Ansicht nach nur die menschliche Natur wider.

Sie überlegen, eine Prämie für die Widerlegung Ihrer Hypothese auszuloben ...

Casti: Stimmt. Ich könnte mir vorstellen, 100 Dollar für ein überzeugendes Gegenbeispiel zu bieten. Allerdings bin ich überzeugt, dass es keine solchen Gegenbeispiele gibt. Die gesellschaftliche Entwicklung ist ein Produkt der menschlichen Natur. Da wirken feste Gesetze, ähnlich den Naturgesetzen - auch wenn sie mehr statistischen Charakter haben.

Interview: Thomas Vasek (wst)