Reverse Engineering in Gefahr

Hardwarebasteleien und Reverse Engineering-Ansätze werden in den USA zunehmend von Klagen bedroht – ein Trend, der auch 2006 anhalten dürfte.

vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 6 Min.

Reverse Engineering ist überall. Technisch begabte Käufer der neuen Microsoft-Spielekonsole Xbox 360 könnten die Festtage womöglich dazu genutzt haben, das Gerät einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und sich an den Hardware-Bestandteilen zu schaffen zu machen. Oder sie löten einen (bislang allerdings noch nicht erfundenen) Extrachip hinein, um aus der Konsole einen PC zu machen, wie man dies bereits vom Vorgängermodell Xbox kannte. Und dann wären da noch die Mobilfunkanwender, die inständig hoffen, dass jemand einen Weg entwickelt, all ihre alten Adressdaten und SMS-Botschaften vom alten Handy auf ein neues zu transferieren – auch dies eine Aufgabe für geschickte Bastler, die die Kunst des Reverse Engineering beherrschen.

Die Technik, bei dem Geräte soweit auseinander genommen (oder disassembliert) werden, bis ihre Arbeitsweise genau bekannt ist, hat im Silicon Valley eine lange Tradition, die bis in die frühen Tage der Halbleiterindustrie reicht. Im neuen Jahr könnten Reverse Engineering-Fans in den USA jedoch neue Verbote drohen – zumindest sind entsprechende Bemühungen im Gange. Sollte es dazu kommen, hätte dies nicht nur Einfluss auf die Bastler-Gemeinschaft, sondern auch auf den Endkunden, der dann beispielsweise nicht mehr so leicht zwischen verschiedenen digitalen Musikspielern oder Videorekordern wechseln könnten.

Bereits heute werden Reverse Engineering-Einschränkungen über die Urheberrechtsgesetzgebung gerechtfertigt. In der vergangenen Woche wurden drei Kalifornier verhaftet, weil sie Xbox-Konsolen hergestellt und verkauft hatten, mit denen raubkopierte Spiele verwendet werden konnten. Die Razzia gesellt sich zu zahllosen anderen Ermittlungsbemühungen, die vom umstrittenen US-Copyright-Gesetz Digital Millennium Copyright Act (DMCA) ausgehen, das unter anderem die Umgehung von Kopierschutzmaßnahmen verbietet. Und dennoch: Der Xbox-Hack wurde erst durch Reverse Engineering der Xbox-Chips überhaupt möglich. Firmen fürchten die Bastler, weil im Grunde jeder Hacker in seiner Garage entsprechende Anstrengungen starten kann, ohne sich Gedanken über das Gesetz zu machen.

Dabei ist Reverse Engineering etwa in der Chip-Industrie für viele Marktteilnehmer lebensnotwendig. So gibt es sogar Firmen, die sich auf die Analyse neuer Komponenten und Geräte spezialisiert haben und ihre Ergebnisse dann an die Industrie verkaufen. Chipworks, ein kanadisches Reverse Engineering-Unternehmen, kündigte so beispielsweise im vergangenen Monat an, dass man die wichtigsten Chips der Xbox 360 analysiert habe.

Chipworks hat in seiner zwölfjährigen Geschichte bereits Tausende von Chips mit Reverse Engineering-Methoden bearbeitet, wie der Senior Technology Analyst des Unternehmens, Dick James, sagt. Die Ergebnisse würden dann an alle großen Hersteller auf der ganzen Welt verkauft.

Die Firma glaubt, sich auf festem rechtlichem Boden zu befinden – und das nicht nur in Kanada. Andrea Girones, bei Chipworks in der Patentberatung tätig, nennt hier insbesondere den amerikanischen "Semiconductor Chip Protection Act" aus dem Jahr 1984, der geschaffen wurde, um Firmen vor dem Anfertigen von Kopien ihrer Chipdesigns zu schützen. Das Gesetz enthält einen spezifischen Abschnitt zum Thema Reverse Engineering eines Chips, der besagt, dass dies erlaubt sei, so lange es darum ginge, Produkte mit dem Chip kompatibel zu machen oder sogar ein besseres, konkurrierendes Produkt zu schaffen.

In einem Kongressbericht zu dem Gesetz heißt es, dass das Reverse Engineering eine in der Chipbranche gängige Praxis sei, bei dem Wettbewerber existierende Chips untersuchten, um bessere oder verwandte Versionen herzustellen. Sprich: Das Reverse Engineering der Hardware ist legal, so lange man dabei nicht das Chipdesign eines anderen kopiert.

Doch diese glasklare Rechtmäßigkeit des Reverse Engineering dürfte bald ein Ende finden. Trotz solcher Gesetze wird das Wasser für Firmen wie Chipworks inzwischen trüber. Gleichzeitig könnten neue Rechtsstreitigkeiten, die den DMCA nutzen und gleichzeitig den Chip Protection Act auszuhebeln versuchen, die Lage deutlich verschlechtern.

Neue Urteile und veränderte Endbenutzer-Lizenzen führen bereits jetzt zu Grauzonen, wie Jason Schultz, Anwalt bei der Netzbürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) in San Francisco meint. Er erwartet, dass das Reverse Engineering in den nächsten Jahren weitere Angriffe zu erdulden haben werde, weil Firmen versuchten, ein bestehendes Gerät zu nutzen, um den Kauf weiterer Produkte anzukurbeln. Hardware wäre dann beispielsweise nur mit bestimmten Batterien, Fernbedienungen und anderen Zubehörartikeln des gleichen Herstellers kompatibel.

"Je mehr Menschen Mobilgeräte wie Handys, PDAs oder Smartphones verwenden, um so stärker wird es darum gehen, wie leicht man von einem zum anderen wechseln kann", meint Schultz. "Wenn ich all meine Musik auf einem iPod habe und ein neuer Musikspieler herauskommt, möchte ich den vielleicht kaufen. Die zentrale Frage ist dann, wie ich all meine Musik importieren kann."

Reverse Engineering-Ansätze könnten zu Geräten führen, bei denen der Wechsel nur einen Knopfdruck bedeutet. Ähnliches gilt laut Schultz für Geräte, die TV-Sendungen digital aufnehmen - auch hier könnten Bastler Lösungen finden, sie auf zahllose andere Komponenten zu übertragen.

Bislang gab es in den USA bereits zwei Klagen, die versuchen, die Herstellung kompatibler Geräte zu unterbinden. In dem einen Rechtsstreit ging es um Tintenpatronen für Drucker, im anderen um Fernbedienungen – und bei beiden wurde Reverse Engineering eingesetzt. Die Anwälte auf der Klageseite nutzten in beiden Verfahren den DMCA – gebracht hat es wenig, weil der Richter jeweils befand, dass es hier nicht um den Diebstahl urheberrechtlich geschützten Materials ging.

Obwohl diese Verfahren Reverse Engineering-Ansätzen zur Erstellung kompatibler Produkte zu guter Letzt grünes Licht gaben, erwartet Schultz in naher Zukunft weitere Klagen. Besonders Nutzungsbedingungen und Endnutzer-Lizenzen, die das Reverse Engineering verbieten, seien ein Streitfall. Hier träfe dann Vertragsrecht auf Urheberrecht: "Deshalb ist das ein grauer Bereich. Verschiedene Gerichte sehen das jeweils anders."

Auch Landesgrenzen bieten keinen Schutz. Chipworks geht etwa mit US-Kunden sehr vorsichtig um. Girones aus der Chipworks-Patentberatung meint, man achte genau auf Embedded Code-Fragmente, die womöglich unter das Urheberrecht fielen. Man warne Kunden vor dieser rechtlichen Grauzone: "Wir müssen für sie vorsichtig sein. Wir wollen sichergehen, dass das alles in Ordnung geht."

Die Ergebnisse aktueller Rechtsstreitigkeiten könnten einen großen Einfluss auf die Industrie haben – und die Endkunden. "Sie sind direkt betroffen", meint Schwartz. "Die Wahlmöglichkeiten der Kunden hängen direkt davon ab, wie frei und rechtssicher Reverse Engineering ist. Wenn Firmen verklagt werden, investieren sie hier nicht."

Von Kevin Bullis; Ăśbersetzung: Ben Schwan. (wst)