"Atomkraft zur Meerwasserentsalzung"

Ein Interview mit der Chefin des französischen Atomgiganten Areva.

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Ein Interview mit der Chefin des französischen Atomgiganten Areva.

Frankreich ist auf dem Gebiet der zivilen Nutzung der Atomenergie weltweit führend: Ungefähr 80 Prozent seiner Elektrizität stammt aus dem Uran. Die Frau, die dieser gigantischen Atommaschinerie vorsteht, heißt Anne Lauvergeon. Sie ist Vorstandschefin von Areva, einem 15 Milliarden Dollar schweren Großkonzern, der aus den früher staatlichen französischen Nuklearanlagen und der ehemaligen Siemens-Atomabteilung entstand. Arevas Geschäft berührt nahezu alle Aspekte der Atomenergie - von der Entwicklung von Reaktoren bis hin zur Atommüll-Lagerung.

Im September gab die US-Tochter von Areva bekannt, dass sie in einem Joint Venture mit der Constellation Energy Group aus Baltimore (Maryland) vier neue amerikanische Atomkraftwerke bauen werde. Sollte das Projekt genehmigt werden, wären dies die ersten neuen Atomreaktoren, die seit den späten Siebzigerjahren in den USA beauftragt wurden. Technology Review unterhielt sich mit Lauvergeon über die aktuelle Lage im Atomgeschäft.

Technology Review: Frau Lauvergeon, stehen wir vor einem neuen Atom-Boom?

Anne Lauvergeon: In den nächsten 20 Jahren sollen weltweit 150 bis 250 neue Reaktoren gebaut werden. Ungefähr 100 davon werden bestehende Anlagen ersetzen; bis 2025 haben wir dann also ungefähr 500 bis 600 Reaktoren weltweit. Auf längere Sicht ist noch unklar, wie aggressiv die Nationen ihre Anti-CO2-Politik verfolgen werden. Sollten die zwölf führenden Länder der Welt Frankreichs Beispiel folgen, würden sich die globalen CO2-Emissionen um 20 Prozent reduzieren. Es könnte auch sein, dass die Atomkraft künftig auch für andere Anwendungsbereiche verwendet wird -– etwa zur Produktion von Wasserstoff oder zur Meerwasserentsalzung.

TR: Kostet ein Kraftwerk pro Anlage ungefähr zwei Milliarden Dollar, kämen Gesamtkosten von einer halben Billion Dollar auf uns zu. Werden sich diese Preise künftig reduzieren?

Lauvergeon: Die Kosten für den Bau eines AKW liegen nur wenig höher als die für ein modernes, "sauberes" Kohlekraftwerk. Außerdem sind die Brennstoffkosten später wesentlich geringer. Mit standardisierten und weiterentwickelten Reaktoren, stabilen gesetzlichen Rahmenbedingungen und einer guten Ingenieurleistung erweist sich die Atomtechnik als eine der günstigsten Methoden, Strom zu produzieren. Es ist ein Märchen, dass Atomenergie teuer ist. Die Kosten für die Klimaveränderung rechne ich hier noch gar nicht ein, was wir aber unbedingt tun sollten.

TR: Wie ernst nehmen Sie den heutigen politischen Widerstand?

Lauvergeon: Die Anti-AKW-Aktivisten tun so, als hätte sich nichts verändert auf der Welt. Wir leben in einer Zeit, in der China und Indien riesige Reaktorprogramme planen und wir kurz vor einer Klimakatastrophe stehen. Die Argumentation, dass die Welt die Atomkraft aufgeben soll, wirkt auf mich immer weniger überzeugend.

TR: Und was ist mit den Gefahren der Proliferation?

Lauvergeon: Die so genannten Problemländer sind jeweils ganz spezielle Fälle, die einen wachsamen, strengen und mehrstufigen Ansatz erfordern. Als Teil hiervon diskutieren wir derzeit ein System von Versorgungsgarantien für Länder, die bereit sind, Abstand von der Entwicklung bestimmter Brennstoffzyklen zu nehmen. Wir müssen dabei allerdings realistisch bleiben. Es wird wohl kaum möglich sein, der Türkei, Indonesien oder Venezuela den Zugang zur zivilen Nutzung der Atomenergie zu verwehren.

TR: Und was ist mit der Frage des AtommĂĽlls?

Lauvergeon: Regierungs- und Forschungsstellen hier in Frankreich haben zweifelsfrei festgestellt, dass es möglich ist, die Giftigkeit von Atommüll um den Faktor zehn und sein Volumen um den Faktor fünf zu reduzieren. Diese Lösung ist nachhaltig und ermöglicht uns, bis zu 96 Prozent des spaltbaren Materials wiederzuverwenden. Die Kontroverse um den Atommüll würde womöglich geringer ausfallen, wenn diese Fakten besser bekannt wären.

TR: Werden wir 2050 immer noch wassergekĂĽhlte Reaktoren bauen?

Lauvergeon: Wassergekühlte Reaktoren sind eine Technologie, die sich bewährt hat. In den nächsten Jahrzehnten könnten Brennstoffkosten, Atommüll-Angelegenheiten und andere Faktoren dazu führen, dass "Fast Neutron"-Reaktoren gebaut werden, die eine höhere Effizienz bieten. Neue Märkte könnten auch im Bereich der Hochtemperatur-Reaktoren entstehen, die für die Chemie-Industrie und die Wasserstoff-Produktion entwickelt werden sollen.

TR: Wie wahrscheinlich ist es, dass neue Technologien die Energiefrage auf den Kopf stellen? Was ist mit der Kernfusion?

Lauvergeon: Die grundlegenden Theorien und wichtigsten Konzepte zum Thema Energieversorgung wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark vorangetrieben. Das Problem ist nicht, dass es zu wenig Energie gäbe. Es geht darum, jedem einzelnen überall auf der Welt Energie zu liefern - und das unter wirtschaftlich wie umweltpolitisch akzeptablen Bedingungen. Alle Bereiche werden sich weiterentwickeln, seien es nun fossile Brennstoffe, erneuerbare Energieformen, Atomkraft oder Kernfusion. Ich glaube aber nicht, dass eine dieser Technologien die Energiefrage auf den Kopf stellen könnte.

Die Fragen stellte Spencer Reiss; Ăśbersetzung: Ben Schwan. (wst)