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Was war. Was wird.

Der Fortschritt ist unaufhaltsam. Aber haben auch alle verstanden, worin er besteht? Eine Frage, die sich nicht nur Hal Faber in der Wochenschau stellt.

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Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Heute vor 95 Jahren wurden in Berlin erstmals Motor-Omnibusse im Linienverkehr eingesetzt. Doch schon morgen vor 95 Jahren gab es Einschränkungen. Der Nachtverkehr wurde wieder durch Pferdedroschken geleistet, weil der Lärm der Omnibusse als "Schlafstörung höchsten Grades" angesehen wurde. Wir lernen daraus, dass der Fortschritt Unglück bringen kann. Zu den Unglücklichen der letzten Woche zählt Garden.com, die nicht einmal eine Nacht zwischen Erfolg und Unglück brauchte: Bobos sind fixe Naturen. An ein und demselben Tag schickte die Website zwei unterschiedliche PR-Meldungen an die Presse: Montagmorgen die Erfolgsgeschichte mit einer Wachstumsrate von 84 Prozent gegenüber dem Vorjahr und mit 163 Prozent Plus bei der Zahl der Kunden. In der Nacht von Montag auf Dienstag folgte dann Meldung Nummer Zwei: Der Laden wird dicht gemacht, weil niemand Garden.com kaufen will.

*** Diese Woche war Comdex in der Stadt aller Glücklichen und glücklich Heiratenden: Las Vegas, Elvis Presley, The Eagles! Hier traf das Unglück die Firma Jung Myung Telecom aus Korea. Unter dem Titel "Kompakt wie eine Krawattennadel" warb sie für eine eigentlich ingeniöse Erfindung, einen winzigen Flash-Speicher, der in einem USB-Stecker endet. In einem USB-Port gesteckt, meldet sich das kleine Ding als zusätzliches Laufwerk an. Passend zur Pressemeldung verteilte Jung Myung unter den Journalisten Krawattennadeln, die so hässlich waren, dass sie achtlos in die Papierkörbe geworfen wurden. Tatsächlich enthielten sie einen Flashspeicher von 512 MByte. Nicht nur schwarze Katzen bringen Unglück. Das funktioniert auch, wenn sie grau wie ein Aufwischer sind: Kodak-Boss David Carp ließ sich in seiner Keynote von Darsteller-Doubles berühmter Las Vegas-Größen unterbrechen. Am schlimmsten erwischte es die Doubles von Siegfried und Roy. Der furchtbare bengalische Tiger Killer entpuppte sich als steinalte Siamkatze, die auf offener Bühne einschlief.

*** Kommen wir zu den wahrhaft Glücklichen und Auserwählten dieser Comdex. Ein Mann hatte eine großen Stand ganz für sich allein und durfte für sich werben. Nein, nicht Bill Gates: Scheich Mohammed Bin Rashid Al Maktoum trat an, die IT-technischen Vorzüge seiner Regierung zu schildern. Statt gängiger PR-Flacks ein echter Informationsminister, der mit Journalisten und Standbesuchern plauderte. Wobei die Presse sich auch hier falsch verhielt. Ein Kriegsminister überreichte in freundlich gestimmter Absicht einen Poloschläger als Dank für den Besuch – die meisten ließen ihn in einer Ecke der Messe stehen.

*** Glück hatte aber trotzdem Bill Gates, auch wenn er keinen eigenen Stand für sich verbuchen konnte. Obwohl: Der Microsoft-Stand war ja groß genug. Jedenfalls trat Gates in Klamotten von Lands End auf und wurde von Ralph Lauren anbiedernd bis zur Peinlichkeit gepriesen. Vor Gates' Keynote über die Agilität von Microsoft ließ die Firma ein Papierchen verteilen, in dem Gates einen hübschen Satz von sich gibt: "99 Prozent aller großen Internet-Programme müssen erst noch geschrieben werden." Dieser Satz entfiel in der Keynote auf Drängen der Abteilung, die Dinge wie den Internet Explorer, den Media Player und Hotmail vertreibt. Dennoch wurde er landauf, landab zitiert. Das Eigentor wollte niemand bemerken. Vielleicht träumt es sich mit Gates einfach besser?

*** Glück hin, Agilität her: Vielleicht gibt es unter meinen Lesern noch solche, die an unseren Eintritt in die Wissengesellschaft, die Knowledge Society, glauben. Auch wenn sich diese Kolumne die Wissensgesellschaft als Gesellschaft des Wissens auf die Fahnen geschrieben hat: Nix ist damit. Die Wissensgesellschaft ist ebenso passé wie die Kommunikationsgesellschaft, denn jetzt kommt die Dream Society, behauptet der deutsche Newcomer DreamersWin aus München. Er will mit so genannten DreamCamps (Dress Code: Relaxed Elegance) in ganz Deutschland neue Bobos zusammenbringen. Zusammen geträumte Geschäftsideen bisher: Spinnengift gegen Krebs und die Ich-Aktie für Erfinder, die partout kein Team zusammenbekommen und sich selbst an die Börse werfen wollen. Prominenteste Vertreterin des DreamAngel-Networks der Dream Society von DreamWin ist Maggie Tapert, die führende amerikanische Sex-Therapeutin. Sie behauptet, dass der Sex in der Krise steckt.

*** Dem muss ich aber energisch widersprechen: Der Sex in der Krise? Pah! Die Weltbevölkerung ist in diesem Punkt absolut agil. Dream realistically, um es mit dem neuen Compaq-Slogan zu sagen. Den Beweis findet man in der Umfrage, die 3Com unter dem Titel Planet Project in der ganzen Welt durchführen lässt und die Daten in Fast-Echtzeit veröffentlicht. Unter der Frage "Hatten Sie schon einmal Sex in folgender Umgebung?" finden sich die Antworten (in Klammern die Erläuterungen der Forscher, aktueller Stand): "Im Auto" 37%, "Draußen" (im Park oder auf dem Friedhof) 27%, "Drinnen" (im Flugzeug oder Museum) 9%, "Auf der Arbeit" 8%, "In einem Raum in Gegenwart von anderen" (Vortrag oder Kino) 7%, "In der Schule" 4%, "Nichts von alledem" 13%. Erheiternd ist die Vorstellung schon, wenn man an all die langweiligen Keynotes und Präsentationen denkt – offensichtlich erholen sich die Leute davon an den unmöglichsten Orten. Natürlich fehlte die Frage "Vor dem Computer?". Sie hätte die ganze Umfrage verfälscht.

*** Die Sache mit Sex führt uns natürlich unweigerlich zu Audrey. So nennt sich 3Coms Appliance, die auf der Comdex auf verschiedenen Ständen zu sehen war. Sie trollte sich bei National Semiconductor, bei QNX und natürlich bei 3Com herum. Sie? Aber ja doch: 3Com besteht in einer eigens für die Journalisten veröffentlichten Schreibanweisung darauf, dass Audrey nur in der weiblichen Form gültig ist. Entsprechend lustig liest sich die FAQ von Audrey: "Kann sie die Fontgröße wechseln? Ja, sie kann die Fontgröße wechseln, aber nur in dem Programm, das sich Browser nennt." Bei der Wahl eines Providers ist Audrey ausgesprochen zickig. Akzeptiert werden nur ISPs, die POP3-Postfächer ohne verschlüsselte Authentifizierung freigeben. Damit sind auch Dienste wie AOL oder Compuserve aus dem Rennen. Die Antwort in der FAQ: "Audrey kann nicht verschlüsseln. Das ist bei ihr auch völlig unnötig. Verschlüsseln ist erst nötig, wenn ein Personal Computer eingesetzt wird. Merke: Er verschlüsselt, sie nicht." Audrey bekam einen Preis auf der GirlGeeks Party dieser Comdex.

*** Ob die ICANN auch einen Preis bekommt? Vielleicht – wenn auch sicher nicht für ihre Entscheidung über die neuen Domain-Namen. Sehen wir einmal von der Sinnfälligkeit der neuen TLDs an sich ab: Erfahrenere Leute als ich, auch die geschätzten Kollegen von der c't, haben dazu schon ihr Scherfchen beigetragen. Wer sich das Transscript der entscheidenden Sitzung durchliest, reibt sich allerdings erstaunt die Augen. Eine in Politik dilletierende Laienspielschar? Oder habe ich da was falsch verstanden? Jedenfalls ist jetzt der "Erfinder des Internet", Vint Cerf, der neue Chef der ICANN. Ob damit alles besser wird, sei dahingestellt — schließlich war sich Cerf nicht zu schade, schon einmal einen "wohlmeinenden Diktator" fürs Internet zu wünschen. Na denn, auf zu neuen Ufern.

Was wird.

Das drahtlose schnelle Internet ist ein Menschheitstraum. Er steht kurz vor der Verwirklichung. Am kommenden Dienstag möchte Nokia mit dem drahtlosen mobilen Internet in Prag ein neues Zeitalter der Kommunikation einläuten. Möge es nicht so scheppern wie bei Metricom, die mit ihrem Ricochet auf Straßenlaternen bislang eine Millarde Dollar ausgegeben und dafür immerhin 2500 Nutzer gewonnen hat. Wenn das nicht die Zukunft ist ... (Hal Faber) / (jk)