Vor 70 Jahren: Amerika lernt den ersten elektronischen Universalrechner ENIAC kennen

Heute vor 70 Jahren wurde die strenge Geheimhaltung um den Computer ENIAC gelüftet. Amerika erfuhr durch einen Zeitungsartikel, dass ein neues Kapitel der Rechentechnik angebrochen war.

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Vor 70 Jahren: Amerika lernt den ersten elektronischen Universalrechner ENIAC kennen

Der erste elektronische Universalrechner ENIAC, im Vordergrund Francis Betty Snyder Holberton, eine der Programmiererinnen des Rechners

(Bild: US Army, Public Domain)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Vor 70 Jahren meldete die New York Times vorab ein Ereignis der besonderen Art. Der Technikreporter T.R. Kennedy jr. beschrieb in seinem Artikel den bis dato geheimen Computer ENIAC (Electrical Numerical Integrator And Calculator). Dieser sollte tags darauf am 15. Februar 1946 im Rahmen einer Feierstunde der Öffentlichkeit vorgestellt und für die wissenschaftliche Nutzung frei gegeben werden, schrieb der Reporter.

In seiner Beschreibung der neuartigen Rechenmaschine erwähnte Kennedy, dass sie 1000-fach schneller als jede andere Methode sei, deutete aber nur äußerst knapp an, wofür sie gebraucht wurde: "Die Maschine wurde bei einem Problem in der Nuklearphysik eingesetzt."

Tatsächlich hatte ENIAC bei seinen ersten Einsätzen im November und Dezember 1945 Parameter zur Fusionszündung der ersten Wasserstoffbombe berechnet. Wie noch erhaltene Flussdiagramme der ENIAC-Programmiererinnen zeigen, waren es vor allem Aufgaben nach der Monte-Carlo-Methode, mit denen ENIAC gefüttert wurde.

Das alles durfte nicht bekannt werden und wurde doch sehr bald bekannt. Schuld daran war John von Neumann. Bereits im Juni 1945 hatte von Neumann ungeachtet aller Geheimhaltungsvorschriften eine Schrift über den ENIAC-Nachfolger EDVAC veröffentlicht, die die grundlegenden Prinzipien eines Computers nach der "Von-Neumann-Architektur" beschrieb.

Zusammen mit dem Physiker Vladimir Zworykin hatte von Neumann danach die New York Times besucht und von den unbegrenzten Möglichkeiten von ENIAC geschwärmt. Beide hatten den Plan, im kriegsmüden Amerika Begeisterung für das Atombombenprojekt zu erzeugen. Dafür nutzten sie den ENIAC-Rechner weidlich aus.

John Presper Eckert

John Mauchly

Tatsächlich spricht der allererste Zeitungsbericht, der in der New York Times erschien, gar nicht vom ENIAC, sondern von einem "Von-Neumann-Zworykin-Gerät". Einhundert Stück dieser neuartigen Rechner, rund um die Erdkugel verteilt, sollten ausreichen, das Welt-Wetter zu berechnen, schwärmte das Blatt. Doch damit nicht genug:
"Die Entwicklung dieses neuen Elektronenrechners, der dem Vernehmen nach über enormes Potenzial verfügt, könnte sogar die Möglichkeit der Wetterbeeinflussung eröffnen. Die Atomenergie könnte dank ihrer Sprengkraft eine Möglichkeit eröffnen, einen Wirbelsturm abzublocken, bevor er eine dichtbesiedelte Gegend erreicht."

Ratzfatzbumm, schönes Wetter dank Computer und Atombomben, diese Mischung sollte beim Publikum zünden. Zunächst aber explodierten John Presper Eckert und John Mauchly, die eigentlichen Erfinder und Erbauer von ENIAC. Beide regten sich drüber auf, dass ihr ENIAC nicht korrekt erwähnt wurde. Sie beschwerten sich zum Erscheinen des Propaganda-Artikels heftig über von Neumanns Anmaßung, durften sich aber öffentlich nicht äußern, weil sie weiterhin der Geheimhaltung unterlagen.

Die Geheimhaltung wurde komplett erst 1972 völlig aufgehoben, als das ENIAC-Buch von Hermann Heine Goldstine erschien, dem ersten Assistenten von Eckert und Mauchly. Eckert nannte von Neumann später einen "üblen Ideenpiraten", was diesen nicht sonderlich kümmerte. Als Wissenschaftler meinte er, über den bloßen Ingenieuren mit ihren Röhrenbasteleien zu stehen, die er in seinen Schriften mit keinem Wort erwähnte.

Umso mehr wurden Eckert und Mauchly von der Armee als herausragende Pioniere geehrt, als am 15. Februar 1946 der Tag des ENIAC anbrach. Die PR-Autoren des Kriegsministeriums sprachen von einem "mathematischen Roboter", den Eckert und Mauchly von der Moore School für Elektrotechnik realisiert hätten. Die Zeiten langwieriger Experimente, das Auf und Ab von Trial-and-Error, wie es in den Tagen von Edison und Marconi Alltag war, seien vorbei. Komplexe Probleme wie die Atombombe benötigten ein anderes Rüstzeug.

Eckert und Mauchly hatten an Eckerts 24. Geburtstag, dem 9. Mai 1943 den Armee-Vertrag zum Bau des numerischen Integrationsrechners unterschrieben und ENIAC mit 50 Ingenieuren und Elektrikern in 200.000 Mannstunden termingerecht für 486.802,22 Dollar realisiert. Ursprünglich für die Berechnung von ballistischen Schusstafeln konstruiert, werde der ENIAC nun der Wissenschaft zur Verfügung gestellt, als Ausfluss der im Krieg gemachten Erfahrungen, so die PR-Mitteilung der "sponsorenden" Armee, die obendrein versuchte, das "Digitale" zu erklären:
"Die Designer des ENIAC bezeichnen ihn als einen 'digitale' oder 'diskrete Variablen' berechnenden Rechner, im Gegensatz zu den Maschinen, die mit 'kontinuierlichen Variablen' arbeiten, von denen der Differentialanalysator ein herausragendes Beispiel ist. Die letztgenannten können nur eine beschränkte Klasse von Problemen bearbeiten. Aber es liegt in der Erfahrung der Sponsoren von ENIAC begründet, dass moderne physikalische Probleme nicht mehr adäquat von diesem existierenden Typ eines Kalkulators gehandhabt werden können."

Bereits im Jahre 1942 hatte der Physiker John Mauchly einen Aufsatz "The Use of High Speed Vaccum Device for Calculating" veröffentlicht. Zusammen mit Eckert hatte sich Mauchly von der Weltausstellung 1939 inspirieren lassen, auf der die Novachord mit 170 Elektronenröhren ertönte, die Eckert selbst spielte.

Sie entwickelten die Idee, Flip-Flops als Binärspeicher zu verwenden. Das war eine Idee, die davon profitierte, dass Philadelphia das Mekka der Röhrenproduktion in den USA war. Denn alle großen Hersteller von Radio- und TV-Geräten waren hier angesiedelt, die besten Elektronenröhren mussten während des Krieges an die Armee geliefert werden.

Wie der Vorgänger MARK 1, ein von Howard Aiken entwickelter elektromechanischer Computer, rechnete ENIAC dezimal. 10 Flip-Flops à zwanzig Elektronenröhren wurden für jede 10-stellige Dezimalzahl benötigt, dazu acht weitere Röhren für Vorzeichen und Steuerung. Insgesamt wurden 17.468 Elektronenröhren, 70.000 Widerstände und 10.000 Kondensatoren verbaut. Die Dateneingabe erfolgte über IBM-Lochkarten. Der ENIAC war frei programmierbar und kannte bereits bedingte Befehle.

Die Programmiererin Betty Jean Jennings Bartik und Frances Bilas Spencer am ENIAC in der Moore School of Electrical Engineering

(Bild: US Army, Public Domain)

Die Programmierung erfolgte allerdings nicht mit einem Programm, sondern mit Steckkabeln, 300 dekadischen Drehschaltern und Schalttafeln, wobei die Programmierarbeit wie beim geheimen britischen Colossus-Computer und am deutschen "Institut für praktische Mathematik" von Alwin Walther reine Frauenarbeit war: Hier wurden nur Abiturientinnen mit einer Eins+ in Mathematik dienstverpflichtet, um als "Computer" kriegswichtige Daten an Rechenmaschinen zu berechnen.

Die talentierten Mathematikerinnen, die ENIAC aus dem FF beherrschten, waren Francis Betty Snyder Holberton, Betty Jean Jennings Bartik, Kathleen McNulty Mauchly Antonelli, Marlyn Wescoff Meltzer, Ruth Lichterman Teitelbaum und Frances Bilas Spencer. Es gehört zur Tragik der Technikgeschichte, dass mit dem ersten Computer die Fähigkeiten dieser Frauen entwertet wurden.

Die US-amerikanische Öffentlichkeit erfuhr am 15. Februar erstaunt, dass ENIAC für die Multiplikation zweier 10-stelliger Zahlen 2,8 Millisekunden brauchte, aber nicht, was die versierten Mathematikerinnen mit ihren Vorarbeiten leisteten, bis hin zum Verständnis des Computers, der sie befähigte, innerhalb von 15 Minuten eine kaputte Elektronenröhre zu finden. Was wirklich nach der Monte-Carlo-Methode berechnet wurde, blieb geheim.

Natürlich gibt es keinen Bericht über den jüngst teil-rekonstruierten ENIAC, der sich nicht der Frage beschäftigt, ob er wirklich "erste Computer" war. Besonders in Deutschland wird Konrad Zuse mit seinem Z3 von 1941 gerne als erster Erster angeführt.

Zu dieser Frage gibt es Dutzende dicker Bücher und etliche Prozesse, in denen sich die Computer-Hersteller Honeywell und Sperry Rand einander nichts schenkten. Bekanntlich gewann vor Gericht Honeywell in Vertretung seines Angestellten Atanasoff, während Eckert und Mauchly verloren.

Sie entwickelten zuerst in ihrer eigenen Firma Electronic Control Company (später Eckert-Mauchly Computer Corporation) den BINAC und dann, von Sperry Rand eingekauft, den UNIVAC. Dieser Rechner gelangte in den USA zur spektulärer nationaler Berühmtheit, als er die Wahl des US-Präsidenten Eisenhower korrekt vorhersagen konnte.

Den besten Kommentar zum Irrsinnsproblem des "ersten Computers" und der Entwicklung von ENIAC lieferte einer der Erfinder, John Presper Eckert, selbst ab, als er im Rückblick auf die Flip-Flop-Entdeckung von William Henry Eccles und Frank W. Jordan im Jahre 1918 erklärte:
"Was mich am meisten überraschte, war die Tatsache, dass nichts wie der ENIAC da war, obwohl es alle benötigten Komponenten 10 oder sogar 15 Jahre früher schon gab. Der ENIAC hätte 10 oder 15 Jahre früher erfunden werden müssen und die echte Frage ist doch die, warum das nicht schon früher passierte."

(jk)