Neurowissenschaften: "Ein allwissender Beobachter könnte unsere Entscheidungen vorhersehen"

Alle unsere Entscheidungen basieren auf den Naturgesetzen und seien deshalb prinzipiell vorherzusehen, meint der Berliner Neuroforscher John-Dylan Haynes. Kommerzielle Lügendetektoren seien trotzdem "hochgradig unseriös".

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John-Dylan Haynes

(Bild: foto di matti)

Lesezeit: 3 Min.

Der Glaube an die Entscheidungsfreiheit ist falsch, sagt der Berliner Neuroforscher John-Dylan Haynes, Professor an der Charité Berlin und Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging, im Interview "Wie frei sind die Gedanken, Herr Haynes?" mit dem Magazin Technology Review (aktuelle Ausgabe 4/2016 jetzt am Kiosk oder hier zu bestellen).

Dazu hat er mit seinen Kollegen das berühmte Experiment des US-Physiologen Benjamin Libet ein Stück weiter gedreht. Libet hatte Ende der siebziger Jahre festgestellt, dass sich eine Entscheidung mit Hirnstrommessungen nachweisen lässt, bevor eine Versuchsperson sie nach eigenem Bekunden bewusst trifft.

Haynes wollte nun wissen: "Sind die unbewussten Vorgänge wirklich die kausale Ursache für die Entscheidung oder zeigen sie nur eine Tendenz an?" Dazu haben die Forscher ihre Probanden zu einem Spiel aufgefordert: Sie sollten während eines grünen Signals ein Fußpedal betätigen. Ein Algorithmus versuchte währenddessen, per Hirnstrommessung die Entscheidung der Probanden vorherzusehen und ihnen ein rotes Stoppsignal zu geben. Wenn die Versuchspersonen das Pedal dann trotzdem drückten, hatten sie verloren. Vielen gelang es aber, ihre ursprüngliche Intention zu unterdrücken.

Die unbewusste Vorbereitung einer Entscheidung führt also nicht zwangsläufig – wie eine Kette fallender Dominosteine – zur Ausführung. "Auch wenn der erste Dominostein schon gefallen ist, kann das Bewusstsein einen späteren herausnehmen und so die Kettenreaktion unterbrechen", erklärt Haynes. "Erst 200 Millisekunden vor der Bewegung gab es einen Point of no return."

Die Vorstellung von Willensfreiheit sieht er durch diesen Befund allerdings nur scheinbar gerettet: "Sowohl die unbewussten Prozesse als auch die bewussten Entscheidungen unterliegen den Naturgesetzen." Veranlagung und Erfahrungen führten dazu, dass unser Gehirn in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise reagiere. Haynes: "Selbst wenn wir uns im Stillen vornähmen, uns völlig unerwartet zu verhalten und damit unsere Willensfreiheit zu demonstrieren, wäre auch diese Entscheidung durch irgendetwas ausgelöst worden, was in der Vergangenheit passiert ist."

Das bedeute auch: "Ein allwissender Beobachter, der in unser Gehirn blicken und alle relevanten Faktoren erfassen könnte, wäre in der Lage, unsere Entscheidung vorherzusehen." Trotzdem sei ein wirkliches Gedankenlesen noch in weiter Ferne. Ursache dafür sei der komplexe Zusammenhang zwischen Hirnmustern und Gedanken. "Man müsste die vielschichtigen Gedanken und Empfindungen in allen ihren Nuancen sprachlich erfassen können, das kann Sprache gar nicht leisten", sagt Haynes. Kommerzielle Lügendetektoren auf Hirnscan-Basis seien deshalb "hochgradig unseriös".

Das vollständige Interview lesen Sie in der April-Ausgabe der Technology Review (ab 24. März im Handel und heute schon online bestellbar). (grh)