Das zweite Gesicht

Gut zehn Jahre sind vergangen, seit Mediziner das erste Gesicht transplantiert haben. Inzwischen folgten weltweit 34 weitere Menschen. Wie leben sie mit dem Spiegelbild eines anderen?

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Von
  • Inge WĂĽnnenberg
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Im Sommer 2007 übergoss ihr getrennt lebender Mann sie mit Industrielauge. Die Verätzungen waren so schlimm, dass Carmen Blandin Tarleton vollkommen blind war. Nach zwei Jahren dann implantierten Ärzte der Amerikanerin synthetische Hornhäute. Doch was sie nun mit rudimentärer Sehkraft sah, erschreckte sie. Ihr Gesicht war dermaßen entstellt, dass die gelernte Krankenschwester sich darin nicht wiederfinden konnte. Plötzlich wusste sie, warum kleine Kinder bei ihrem Anblick weinten.

Nachrichtensendungen blendeten eine Warnung vor "grausamen" Bildern ein, wenn sie zu sehen war. Tarleton war froh ĂĽber ihre neue Sehkraft, aber mindestens genauso dringend wĂĽnschte sie sich nun ein neues Gesicht.

Im Februar 2013 war es so weit: Mit Cheryl Denelli Righter war eine Spenderin gefunden, deren Haut von der Struktur und der Farbe her passte. In einer 17-stündigen Operation erhielt die Mutter zweier Töchter am Bostoner Brigham & Women's Hospital ein neues Gesicht. Tarleton ist bis heute glücklich darüber: "Es war angenehm, in den Spiegel zu blicken und nicht all die Narben und Verletzungen zu sehen", erinnert sie sich. "Es war schön, in ein normales Gesicht zu blicken." Auch wenn es ein anderes war.

So irritierend ein Leben mit einem fremden Gesicht im ersten Moment wirkt – wer durch einen Brand, Schuss, Tierbiss, Unfall, aber auch durch Strom oder eine Attacke wie Tarleton verunstaltet ist, für den stellt das Leben mit einem transplantierten Antlitz oft das kleinere Übel dar. Von vielen der bisher 35 Gesichtstransplantierten aus den USA, Frankreich, Spanien, China, Polen und der Türkei ist bekannt, dass sie vor der Operation gar nicht mehr oder nur noch nachts das Haus verließen.

Dennoch haben insbesondere deutsche Mediziner Zweifel, ob die spektakuläre Therapie in die richtige Richtung geht – oder eher durch Lust an der Sensation getrieben ist. Der Verdacht liegt nahe, wenn auch der für seine Nasenkorrekturen berühmte und durchaus eitle Schönheitschirurg Werner Mang in seiner Autobiografie schreibt: Er würde seine Karriere gern mit einer kompletten Gesichtsverpflanzung krönen.

In Deutschland hat bislang noch kein Chirurg ein Gesicht transplantiert. Gerd Gehrke, Chefarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie im Henriettenstift in Hannover, hält die psychische Belastung für zu groß, mit dem transplantierten Gesicht einer fremden Person zu leben. Außerdem sieht das Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie keinen erheblichen Nutzen in einem Verfahren, das er bei der wichtigsten Patientengruppe nicht einsetzen kann: Tumorpatienten. "Menschen mit Krebs stellen einen Großteil der Klientel für rekonstruktive Eingriffe am Kopf." Für sie ist die Einnahme von Immunsuppressiva, die nach Transplantationen dauerhaft zu nehmen sind, aufgrund der möglichen Nebenwirkungen – eine davon sind Tumore – zu riskant.

Kritiker warnen zudem vor dem Risiko einer völligen Abstoßung des fremden Gewebes. Das Schreckensszenario könnte zu einem noch schlimmeren Zustand führen als vor der Operation, weil das eigene Gewebe des Patienten für den transplantierten Bereich restlos entfernt wurde. Als Notlösung wäre zwar eine erneute Transplantation möglich, verbunden aber wieder mit Wartezeit und einer enormen medizinischen wie psychischen Belastung für den Patienten.

Die Vorbehalte haben dazu geführt, dass Mediziner in Deutschland vor allem Hautlappen aus anderen Körperregionen wie dem Unterarm oder dem Oberschenkel nutzen, um Gesichter wieder herzustellen. Darüber hinaus kommt Kunsthaut zum Einsatz. Werden Knochen oder Knorpel benötigt, greifen die Chirurgen auf Material aus Oberschenkel oder Becken sowie Implantate zurück. Einige Mediziner hingegen sind weniger kritisch: Maximilian Kückelhaus, Arzt in der Klinik für Plastische Chirurgie am Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum, hat selbst am Bostoner Brigham & Women's Hospital geforscht und Tarleton in seiner Zeit dort mit betreut. In der Bochumer Klinik habe er zwar noch niemanden gesehen, dem er eine Gesichtstransplantation angeboten hätte, sagt Kückelhaus: "Aber wenn es einen Patienten gäbe, würden wir ihm auch helfen."

Die Debatte läuft seit Jahren, und mit jeder Gesichtstransplantation lebt sie wieder neu auf. Gerade weil die Eingriffe ein extrem emotionales Thema sind, fällt ein Urteil schwer. Sogar in den USA, wo bislang die meisten derartigen Eingriffe stattfanden, ist es eine Herausforderung, Spender zu finden. Da Trauerfeiern dort meist am offenen Sarg abgehalten werden, bieten die Transplantationszentren an, eine wirklichkeitsgetreue Maske für die Aufbahrung anzufertigen. Allerdings nehmen bisher wenige das Angebot an. Tarleton beispielsweise musste zwei Jahre auf ein neues Gesicht warten. Mittlerweile sei die Akzeptanz in der amerikanischen Öffentlichkeit jedoch größer geworden, hat Kückelhaus beobachtet. Das habe dazu beigetragen, dass seit 2014 Gesicht und Hände schon bei der Registrierung der Spender wie Nieren und das Herz auch als Organe behandelt würden.

Trotzdem bleibt die Frage: Lohnt sich der Eingriff? Wie groß sind das medizinische Risiko und die seelische Belastung für die Betroffenen? Nach zehn Jahren und 35 Eingriffen fügen sich die einzelnen Erfahrungen zu einem Bild: Die Französin Isabelle Dinoire erhielt Ende 2005 als weltweit erste Patientin die Gesichtszüge einer Fremden. Ihr eigener Hund hatte sie im Schlaf angegriffen und dabei einen großen Teil der unteren Gesichtshälfte abgebissen. Dinoire trug tagaus, tagein eine Gesichtsmaske – sogar unter der Dusche. Da ihr neben der Nase die Lippen, das Kinn und ein Großteil der Wangen fehlten, konnte sie zudem nur unter Schwierigkeiten Nahrung zu sich nehmen.

Als er Dinoires schwere Verletzungen sah, stand fĂĽr den Chirurgen Bernard Devauchelle vom Centre Hospitalier Universitaire Amiens-Picardie fest: "Diese Art von Gewebeverlust erfordert diese Art der Behandlung: eine Gesichtstransplantation." Seine Kollegin Sylvie Testelin erinnert sich an die Aufbruchsstimmung in ihrem gemeinsamen Team Mitte der Nullerjahre: "Wir waren so weit, wir wussten genau, was wir zu tun hatten." Sie ĂĽbertrugen ein Dreieck aus Nase, Lippen und unterer Wangenpartie von einer anonymen hirntoten Spenderin auf Dinoires Gesicht.

Aber ohne Kontroversen ging die Operation nicht über die Bühne. Noch ein Jahr zuvor hatte der französische Ethikrat CCNE einem solchen Projekt gegenüber, das kein Leben rettet und mehr kosmetischer Natur ist, Vorbehalte geäußert. Es dürfe nur mit Einverständnis des französischen Instituts für Transplantationen erfolgen. Zwar gaben die entsprechenden Behörden am Ende grünes Licht für das Team aus Amiens, aber anschließend wurde unter Medizinern und in den Medien vehement über die moralische Seite der Operation diskutiert.

Die Pioniertat des französischen Chirurgenteams löste einen internationalen Presserummel aus. Für Dinoire war es mehr Aufsehen, als ihr guttat. Sie scheute den Kontakt zu den Medien, die damals regelrecht eine Hetzjagd auf die Frischoperierte und ihre Familie veranstalteten. Trotzdem zeigt Naomi Austins BBC-Dokumentation von 2006 eine geduldige Frau, die alles tut, um die Behandlung zu einem Erfolg zu machen. "Es ist eine Art Wunder", freut sie sich. Inzwischen ist die Französin im Alter von 49 Jahren verstorben. Die plastischen Chirurgen eilten nach Dinoires Operation zu den nächsten Herausforderungen: Sie wollten nicht nur einzelne Partien verpflanzen, sondern gleich ganze Gesichter.