Fliegende Herzen

Beim Transport von Spenderorganen zählt jede Sekunde. Um das zeitraubende Verkehrschaos auf den Straßen zu umgehen, setzt Indien auf Drohnen.

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Von
  • Alexander Stirn

Das Herz raste. Es brauchte gerade einmal 29 Minuten, um vom Stadtrand Neu-Delhis zum Fortis Escorts Heart Institute, einem Krankenhaus im Südosten der indischen Hauptstadt, zu gelangen. Dort implantierten Mediziner das Organ umgehend einem 16-jährigen Jungen. Mit bis zu 120 Kilometern pro Stunde hatte sich das Spenderherz zuvor durch den dichten Nachmittagsverkehr gepflügt, wie die "Times of India" überrascht notierte.

Für Delhi mit seinem Verkehrschaos, bei dem schon das Linksabbiegen auf einer überfüllten Kreuzung eine halbe Stunde dauern kann, war diese Fahrt im Januar 2015 rekordverdächtig. Allerdings zu einem hohen Preis: Der Krankenwagen benötigte eine Polizeieskorte, weitere Beamte räumten die Fahrtroute frei, sämtliche Ampeln auf dem Weg wurden auf Handbetrieb gestellt. "Grüner Korridor" nennen Indiens Transplantationsverantwortliche das Prinzip. Angesichts chronisch verstopfter Straßen ist es für Patienten, die dringend auf eine Organspende angewiesen sind, die einzige Chance. Zumindest bislang.

Dronlife will das ändern. Das spanische Unternehmen, hervorgegangen aus der Idee von vier Studentinnen, arbeitet an Drohnen, die Spenderorgane durch die Luft zum Empfänger fliegen – ganz ohne Stau und Polizeieskorte. "Wenn wir an chaotische, überbevölkerte Städte wie Neu-Delhi, São Paulo oder Kairo denken, ist der Transport mit Drohnen die einzig realistische Option", sagt die Ingenieurin Cristina Jarabo von der IFFE Business School im spanischen A Coruña, die Dronlife marktreif machen will. "Drohnen verringern die Kosten und den Zeitaufwand." Noch in diesem Jahr will Dronlife in Neu-Delhi mit den ersten Testflügen beginnen. Auch zwei indische Unternehmen stehen in den Startlöchern.

Der Subkontinent ist ein idealer Testparcours. Zwar leidet Indien wegen kultureller Vorbehalte, mangelnder Aufklärung und einer fehlenden Infrastruktur unter schlechten Transplantationsquoten; für jährlich 150000 neue Nierenpatienten stehen nur etwa 6000 Organe zur Verfügung. Die Zahl der Eingriffe nimmt aber ständig zu: Im Bezirk Delhi kam es nach Berechnungen der gemeinnützigen Mohan Foundation 2012 zu 33 Organentnahmen bei toten Spendern, 2013 waren es sogar nur 19. Vergangenes Jahr stieg die Zahl nach vorläufigen Berechnungen hingegen auf 48. Einen ähnlichen Aufwärtstrend melden auch andere indische Provinzen.

Was noch viel schneller steigt, ist allerdings die Zahl der Fahrzeuge auf den Straßen. Etwa 8,5 Millionen Zulassungen verzeichnete Delhi letztes Jahr, darunter etwa 2,7 Millionen Autos. Sie sind der natürliche Feind jeder Transplantation, die stets ein Rennen gegen die Zeit ist. Um den Wettkampf zu gewinnen, hat Komarakshi R. Balakrishnan, Leiter der Herzchirurgie am Fortis Malar Hospital in der Millionenstadt Chennai, Polizei und Regierung vor acht Jahren erstmals von den grünen Korridoren überzeugt. Der Mediziner ist sich allerdings bewusst, dass die freigeräumten Straßen nur eine Notlösung sein können – besonders bei zunehmenden Transplantationen. "Wir können schließlich nicht jeden Tag den Verkehr anhalten", sagte Balakrishnan im Magazin "Newsweek".

Der Ausweg ist dickbäuchig, rot-weiß lackiert, 24 Kilogramm schwer und misst mehr als zwei Meter zwischen seinen vier Rotoren: Dronlife, ursprünglich ein studentischer Beitrag für den internationalen "Drones for Good"-Wettbewerb 2015 in Dubai, hat wenig gemein mit dem typischen Hobby-Quadrokopter. "Der Transport von Organen ist ein äußerst heikler Prozess, es geht schlichtweg um Menschenleben. Deshalb brauchen wir eine äußerst zuverlässige Drohne", sagt Jarabo.

Von einem Akku mit seiner limitierten Leistung haben sich die Entwicklerinnen daher schnell verabschiedet. Stattdessen arbeitet unter der Kohlefaserhülle ein Dieselgenerator. Er erzeugt Strom für vier Elektromotoren, die ihrerseits die Propeller antreiben. So lässt sich jeder Propeller einzeln ansteuern und die Drohne im Gleichgewicht halten. Geschwindigkeiten bis zu 90 Kilometer pro Stunde und eine maximale Flugdauer von 150 Minuten sollen mit dem Antriebssystem möglich sein.

Gesteuert wird der Quadrokopter von einem Autopiloten auf Basis des Bastelcomputers Arduino. Er erhält vor dem Start die Zielkoordinaten, mehrere Wegpunkte sowie Ausweichplätze für Notfälle. Mithilfe eines GPS-Empfängers und Trägheitssensoren für die Feinnavigation schlägt sich der Transporter dann eigenständig (aber stets überwacht von einem Piloten am Boden) zum Bestimmungsort durch. Dort landet er automatisch – dirigiert von einem Ultraschallsensor, der den Abstand zum Landeplatz ermittelt. "Unfälle zu vermeiden, gehörte zu den kritischsten Punkten bei der Entwicklung von Dronlife", sagt Jarabo.

Ebenfalls nicht einfach war der Bau des Transportbehälters für die Organe. Knapp 80 Zentimeter lang und gut 13 Kilogramm schwer ist der mobile Hightech-Kühlschrank. Er hat ein Fassungsvermögen von 33 Litern und Rollen zum Transport am Boden. Ein Passwort, das über einen Touchscreen am Behälter eingegeben wird, schützt die heikle Fracht vor unberechtigtem Zugriff. Um Gewicht zu sparen, kühlen keine Eiswürfel das Organ, sondern sogenannte Peltier-Elemente. Sie stecken in einer vier Zentimeter dicken Isolierung aus Polyurethan-Schaum. Den zur Kühlung nötigen Strom liefert ein eigener Akku.

Zurzeit verhandelt Dronlife laut Jarabo noch mit der priva-ten indischen Krankenhauskette, die das Entwicklerteam ursprünglich um Hilfe gebeten hatte. Es geht um Kosten von etwa 150000 Euro pro Drohne beziehungsweise 2,7 Millionen für das Gesamtpaket inklusive Bodenstationen und Training. Sobald Finanzierung und Verträge stehen, soll der Test eines Prototyps beginnen. Etwa ein Jahr später könnten die fliegenden Organ-Shuttles dann zu ersten Einsätzen ausschwärmen. Und Neu-Delhi soll nur der Anfang sein: Innerhalb von drei Jahren will Dronlife den Service auf weitere Megastädte ausdehnen – darunter Peking und Dhaka.

Jarabo und ihr Team sind allerdings nicht die einzigen Anbieter solcher Dienste. Auch die indische Mohan Foundation, die sich der Förderung von Transplantationen verschrieben hat, will laut "Newsweek" in den kommenden Monaten eine Drohne für Spenderorgane testen – genauso wie Komarakshi R. Balakrishnan, der Vater der grünen Korridore. Der Chirurg möchte es nicht beim Transport von Herzen belassen: "Organe, Blutspenden, dringend benötigte Medikamente: Viele lebensrettende Dinge lassen sich am besten durch die Luft transportieren." (bsc)