Kommentar: Beratung im Einzelhandel wird vollkommen überbewertet

Beratung gilt als der größte Vorteil, den Ladengeschäfte dem Onlinehandel voraushaben. Damit ist es oftmals nicht weit her, wie Autor Clemens Gleich an eigenem Fuße erfahren musste.

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Beratung im Einzelhandel wird vollkommen überbewertet

Nach der Beratungskatastrophe: Happy End mit Zehenschuhen.

(Bild: Clemens Gleich)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Die Tage werden wieder kürzer, in den Timelines tauchen wieder mehr Aufrufe dazu auf, in Ladengeschäften einzukaufen statt im Versandhandel. Die Einzelhändler preisen sich dabei an als diejenigen, die sich Zeit für dich nehmen, deine Bedürfnisse diagnostizieren und dir dann das perfekte Produkt verkaufen – für einen etwas höheren Preis als im Versandhandel, der diese Dienstleistung bezahlen soll. In meinem Alltag bricht dieser versprochene Traum an allen Fronten zusammen.

Die Kehrseite eines publikumsgünstigen Ladens: Er kostet viel mehr als das Lager auf der grünen Wiese. Also liegt dort weniger herum, denn Herumliegen kostet. Der Händler wird dir bevorzugt Dinge verkaufen wollen, die im Lager liegen – vor allem bei Produkten, bei denen Beschaffungs- und Lagerkosten besonders hoch sind. Ich habe mich zum Beispiel gewundert, wieso der Markt an Supersport-Motorrädern über Nacht zusammenbrechen konnte. Die Nachfrage nach neuen Produkten war gesunken, ja, aber wieso dieser totale Zusammenbruch kurz danach?

Ein Kommentar von Clemens Gleich

Clemens Gleich saß vor langer Zeit als c't-Redakteur in einem Büro des Heise-Verlags, bevor ihn einschneidende Erlebnisse dazu brachten, fürderhin in den Sätteln von Motorrädern sein Geld zu verdienen. Doch einmal Nerd, immer Nerd: Als freier Autor schreibt er außer über Fahrzeuge am liebsten über Menschen, Gesellschaft - und jede Form von interessanter Technik von Skateboardachsen bis hin zu Raketenantrieben.

Die Antwort gab eine Tour durch die Händler. Sie hatten schon zu Beginn der Entwicklung keine Fahrzeuge dieses Segments mehr bestellt, weil andere Segmente kürzere Standzeiten versprachen, kurz: bessere Renditen. Wenn du einen Supersportler wolltest, setzte er dich stattdessen auf ein Fahrzeug, das da war. Um überhaupt noch eine Supersportmaschine erwerben zu können, musstest du unglaublich hartnäckig sein oder auf den Gebrauchtmarkt gehen, auf dem das Segment Supersport bis heute stabil gehandelt wird.

Ganz genauso schaut es beim Autohändler aus, im Elektronikgeschäft, bei Bekleidung, selbst beim am häufigsten genannten Positivbeispiel Buchhandel. Selig sind die Kunden, deren Händler ihnen brauchbare Lesetipps gibt. Ich lese extrem viel und habe in meinem ganzen Leben noch keinen Tipp im Buchladen erhalten, den ich danach als lesenswert einstufte. Die waren durch die Bank unterdurchschnittlich, oft sogar völlig unpassend.

Mein Anlass, diese Gegenrede zum Loblied auf die virtuellen Vorteile des Einzelhandels zu schwingen, waren jedoch Laufschuhe. Laufschuhe gehören zu den Produkten, bei denen eine Beratung am meisten bringen kann, weil Menschen bemerkenswert unterschiedlich laufen, was die Schuhproduzenten zu einer ebenso bemerkenswerten Vielfalt an Konstruktionen trieb. Also ging ich zum bestbeleumundeten Händler der Stadt. Seine Empfehlung stellte sich beim ersten längeren Lauf als Katastrophe von Buchladenempfehlungsausmaßen heraus.

Es hätte sehr einfach sein können. Als früherer Barfußläufer brauche ich nur sehr einfach aufgebaute Schuhe ohne Schaumstofffederung. Ich kann in praktisch jedem einigermaßen sitzenden Schuh längere Strecken rennen, vom Espandrillo bis zum Arktis-Gummistiefel. Das alles erzählte ich dem Händler, ließ mich auf dem Laufband begutachten, und dann verkaufte er mir die ersten Schuhe in meinem Leben, in denen ich nicht länger rennen kann.

Was zunächst wie Einlaufschmerzen aussah, war ein dauerhaftes Problem: Diese Schuhe kippelten über Steinchen, Wurzeln oder auf Baumstämmen herum, was Belastungsspitzen in die Sehnen schickte. Das wurde auch noch vielen Kilometern nicht besser, sondern schlimmer. Danach-Recherche: Er hatte mir Neutralschuhe verkauft, also schlicht die mit der höchsten Eignungsverbreitung. Das hätte ich gerade noch allein geschafft. Sie hatten eine leicht gerundete Sohle wie ein Boot, wahrscheinlich für seitlich abrollende Stile. Das hätte ich ohne Empfehlung ganz sicher nicht gekauft.

Ich war selbst schuld, dass ich das Märchen der passenden Beratung im Einzelhandel nach all den Jahren immer noch glauben wollte. Aber der Handel hat noch eine Chance: Denn nach den scheußlichen Fußbrechern brauchte ich ja immer noch Laufschuhe. Google zeigte mir eine große Auswahl minimalistischer Schuhe, alle viel billiger als meine schneckenschleimigen Bootssohlen. Ich sah Zehenschuhe, die so bescheuert aussahen, dass ich sie unbedingt haben wollte. Ich bestellte sie jedoch nicht. Nein, ich schaute, wo man die Dinger im Einzelhandel kaufen kann und fuhr dann fast 80 Kilometer, um das zu tun.

Es war ein Outdoor-Laden. Eine freundliche Verkäuferin stellte mir verschiedene Größen hin und ließ mich allein. Ich fand eine passende Größe und nahm sie mit. Der Preisunterschied zum Versand war gering, und da ich immer den Aufwand der Rücksendung mitbedenke, war der Ladenkauf trotz Anfahrt wesentlich günstiger für mich als der Versand. Die Schuhe funktionierten so gut, dass ich nur bereute, es nicht gleich so gemacht zu haben. Man vergisst zum Beispiel schnell, dass jede Dämpfung Energie verbraucht. Da ich sie nicht benutze, erhalte ich nur ihre Nachteile. So anstrengungsarm wie in den dämpfungslosen Zehenschuhen bin ich nie vorher die Berge meines Waldes hochgerannt. Die überlasteten Sehnen regenerierten sich in kürzester Zeit. Und ich sah aus wie ein Hobbit, der durch eine Teerlache gelaufen ist. Nur Vorteile!

Da es deutlich über sieben Milliarden Menschen auf der Welt gibt, sind Erkenntnisse selten wirklich neu. Beim Nachschlagen zeigte sich, dass dieser hervorragend beleumundete Laufschuh-Händler sich mit anderen kleinen Händlern zusammengetan hatte, um gemeinsam eine Online-Versandplattform zu betreiben, die sich mit den Ladengeschäften logistisch verzahnt. Gute Idee. Du kannst dort Schuhe nicht nur nach Hause schicken lassen, sondern auch in den nächstgelegenen Laden, zum Anprobieren.

Der Händler kümmert sich dann um die Logistik rund um Zurückschicken und Müll. Das mag für die Versandkäufer uninteressant sein, die geübt darin sind, 85 Prozent der bestellten Ware zurückzusenden, es gibt aber offenbar einen Markt auch für Menschen wie mich, die nicht direkt an einem DHL-Hub wohnen. Ich werde also das nächste Mal online bestellen und wieder in diesem Laden einkaufen. Win-win. Nur auf eine Beratung verzichten wir. Da kann ich in zehn Minuten durch Foren-Trawling mehr erfahren, und der Verkäufer kann sich schneller den Unentschlossenen zuwenden, um ihnen Bootssohlen aus dem Lager zu empfehlen. Noch ein Win-win. (axk)