Sarkophag für Tschernobyl: Atomruine verschwindet, Probleme bleiben

Die neue Schutzhülle für die Atomruine Tschernobyl gilt als technisches Meisterwerk. Bald verschließt das größte bewegliche Bauwerk der Welt den Unglücksreaktor. 30 Jahre nach dem Super-GAU steht der gefährlichere Teil der Sanierung allerdings erst bevor.

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Tschernobyl: Als Tourist in die Todeszone, Sarkophag, Tschernobyl
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Wolfgang Jung
  • Andreas Stein
  • dpa
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Wie ein gigantischer Käfer aus Stahl kriecht die neue Schutzhülle auf die düstere Atomruine Tschernobyl in der Ukraine zu. Ein robustes System aus Spezialschienen und Hydraulik schiebt das größte bewegliche Bauwerk der Welt beständig auf den 1986 havarierten Reaktor zu. In wenigen Tagen wird die mehr als 36 000 Tonnen schwere Konstruktion die markante Silhouette der Anlage verschluckt haben. Am 29. November soll die neue Hülle feierlich übergeben werden.

"Das ist der Anfang vom Ende des 30-jährigen Kampfes gegen die Folgen der Katastrophe", sagt der ukrainische Umweltminister Ostap Semerak. 100 Jahre lang soll die neue Hülle den Austritt radioaktiver Strahlen verhindern sowie vor Umwelteinflüssen wie Nässe schützen. Das Stahlgerüst darf nicht zu früh rosten. Die Hülle ergänzt einen Betonsarkophag, der von der Sowjetunion nach der fatalen Kernschmelze am 26. April 1986 eilig errichtet worden war und mittlerweile brüchig ist. Doch der gefährlichere Teil der Sanierung steht erst bevor.

Der Bau des neuen Sarkophages für den Unglücksreaktor von Tschernobyl (9 Bilder)

Die Baustelle am Reaktor

(Bild: Heiko Roith)
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In einem ersten Schritt muss unter der mächtigen Stahlglocke der bisherige Sarkophag abgebaut werden. "Für die Aufräumarbeiten sind im Inneren der neuen Hülle unter anderem zwei fast 100 Meter lange Brückenkransysteme montiert. Die Kräne rollen auf Schienen am Boden sowie auf parallel verlaufenden Schienen an der Decke", schildern die Organisatoren den Plan. Der entstehende Müll soll endgelagert werden.

Technisch gilt alles als weitgehend ausgetüftelt. Das Problem ist die Finanzierung. Dem Vertrag zufolge muss die Ex-Sowjetrepublik Ukraine diese Arbeiten bezahlen. Solche Projekte übersteigen aber die Kräfte des zweitgrößten Flächenstaats Europas, den eine Wirtschaftskrise sowie ein Krieg im Osten und die russische Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel Krim auszehren. Bereits der Bau der rund zwei Milliarden Euro teuren Hülle war nur durch 40 Geberländer möglich.

Doch selbst wenn der Abbruch des 1986 hastig erbauten Betonsarkophags gelingt, wartet auch noch die Bergung der geschmolzenen Brennstäbe. Experten vermuten in dem explodierten Reaktor immer noch etwa 200 Tonnen Uran, deren Radioaktivität ein Menschenleben auslöschen würde. "Für die Räumung gibt es bisher weder Geld, noch ein Konzept. Die endgültige Sanierung der strahlenden Ruine beginnt also vermutlich erst irgendwann in eher ferner Zukunft", schrieb die russische Zeitung "Kommersant" vor kurzem.

Unterdessen nähert sich in Tschernobyl die neue Hülle mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa zehn Metern pro Stunde und gelegentlichen Pausen dem explodierten Block 4. Am 15. November hatten Arbeiter den Stahlbogen von 110 Metern Höhe, 165 Metern Länge und 257 Metern Breite offiziell in vorsichtige Bewegung gesetzt.

Unter dem riesigen Mantel in Bogenform hätte die Pariser Kathedrale Notre Dame Platz. Mit ihrer Spezialtechnik hatte die beteiligte Firma aus den Niederlanden bereits im Jahr 2000 geholfen, das verunglückte russische Atom-U-Boot K-141 Kursk aus der Barentssee zu heben.

Auch bei dem fatalen U-Boot-Unglück informierten die Behörden ähnlich wie einst in Tschernobyl zunächst nur zögerlich. In dem Atomkraftwerk war am 26. April 1986 um 1.23 Uhr Ortszeit ein Test außer Kontrolle geraten, Reaktor vier explodierte. Der Super-GAU, der größte anzunehmende Unfall, trat ein. Die Detonation wirbelte radioaktive Teilchen in die Luft, von der Ukraine breitete sich die abgeschwächte Wolke über Westeuropa aus. Zehntausende mussten die Region nach dem verheerenden Atom-Unfall am Rande Europas verlassen.

Die Katastrophe von Tschernobyl (7 Bilder)

Der zerstörte Reaktorblock 4
(Bild: chnpp.gov.ua)

Die radioaktive Wolke traf vor allem das benachbarte Weißrussland, den Westen Russlands, dann verteilte sie sich Richtung Skandinavien und Westeuropa. Wie viele Menschen an den Folgen gestorben sind, ist umstritten. Experten gehen von Zehntausenden Todesfällen aus. In Deutschland und anderen Staaten sorgte der Tschernobyl-Schock vor 30 Jahren für Angst und Unsicherheit. Die junge Ökobewegung erhielt Auftrieb.

Als Reaktion richteten sogar konservative Regierungen Umweltministerien ein. Wegen Tschernobyl legte Italien 1987 seine AKWs still, Polen brach 1989 den Einstieg ab. Die Schweiz will ihre Reaktoren bis 2034 auslaufen lassen. Andere Länder wie die USA halten an der Kernkraft fest. Auch Japan steigt nicht aus, trotz Fukushima. Die Kernschmelze im Kraftwerk Fukushima war 2011 ähnlich katastrophal wie in Tschernobyl. Die beiden Unfälle veränderten die Diskussion über die Atomkraft. Deutschland beschloss 2011 den Ausstieg.

Tschernobyl heute (13 Bilder)

30 Jahre nach der Katastrophe leben auch auch in der verstrahlten Sperrzone noch immer Menschen.
(Bild: Heiko Roith)

(kbe)