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Was war. Was wird. Von @digitalcharta zur charta bibula

Ein neues Lied? Gut und schön. Aber ach, es wäre nicht das erste Mal: So mancher, der neue Lieder anstimmt, verfällt dann doch wieder in alte Ressentiments, befürchtet Hal Faber. Oder macht ganz einfache Denkfehler.

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Was war. Was wird. Von @digitalcharta zur charta bibula

Tja, die teutsche Märzrevolution 1848 konnte Heinrich Heine auch nicht wirklich vom Hocker reißen. Schließlich erkannte er deutlich, dass diejenigen, die da angeblich für das Volk sprechen, in "Teutomanie" und "Phrasenpatriotismus" verfallen. Wer hätte das gedacht  ...

(Bild: Historisches Bild zur Märzrevolution 1848, Urheber unbekannt, Public Domain)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Ein neues Lied, ein bess’res Lied
Oh Freunde will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Deutschland ist bekanntlich seit den Zeilen von Madame de Staël das Land der Dichter und Denker. Dichter schreiben wundervolle wintermärchenhafte Balladen über das Himmelreich auf Erden mit Zuckererbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen. Worauf sich natürlich Spatzen reimen, die den Himmel über der schönen deutschen Erde bevölkern dürfen. Denker hingegen schreiben Manifeste und Erklärungen. Da reimt sich nichts und er darf schon mal richtig krumm sein, der Gang der Gedanken. Mit dem schlichten "Die Gedanken sind frei" begann vor knapp 20 Jahren die Online Magna Charta, Version 1.0, verkündet und unterzeichnet ausgerechnet hoch oben auf der Wartburg, wo sich dereinst schon Martin Luther "im Reich der Vögel" wähnte. Die Online Magna Charta hatte es in sich, wollte man doch damals nichts Geringeres als eine ganze bunte Schar neuer Menschenrechte, weil die alten Menschenrechte genau das waren, alt und überholt.
"Neue Dimensionen der Information und Kommunikation erfordern nicht nur eine Anpassung des nationalen Rechts durch neue Mediengesetze, sondern auch grundlegend neue, weltweit anerkannte Menschenrechte."

*** Zu diesen neuen Menschenrechten gehörte damals "das Menschenrecht auf eine eigene, weltweit erreichbare private Mailbox für elektronische Post", schick mit "Right of Virtual Home" erklärt. Das Recht der freien Rede wurde mit Verweis auf eine in der Charta nicht weiter definierte "Netiquette" eingegrenzt und wenn dieses Recht nicht beachtet werde, sollte eine überstaatliche internationale Instanz zuschlagen, die "Netzgerichtsbarkeit". Mit dem Schlachtruf "Wir sind das Netz!" und einem Aufruf zum gewaltfreien Widerstand überall im WWW, wo Desinformation und Zensur auftauchen, endete die Online Magna Charta, Version 1.0. Erwähnenswert, dass noch im selben Jahr die Version 2.0 erschien, die in einem "Amendment" das Bürgerrecht auf Verschlüsselung und Verschleierung aufführte – eine Reaktion auf die 1997 geführte Debatte über die "Crypto Wars 2.0". Denn auch damals beschäftigte sich die hohe Politik mit dem Problem verschlüsselter Kommunikation und der Frage, ob der Staat mit einem Zugriffsrecht auf sie ausgestattet werden sollte. Erst im September 1998 sollte Wirtschaftsminister Günter Rexrodt das Recht auf Verschlüsselung privater Nachrichten anerkennen.

*** 30 Deutsche unterschrieben 1997 diese deutsche "Charta der Informations- und Kommunikationsfreiheit", zu einem Zeitpunkt, als das Internet von 40 Millionen Menschen benutzt wurde, die sich damals stolz Netizen nannten. Außerhalb Deutschlands wurde die Charta nicht zur Kenntnis genommen, wobei auch andernorts ähnlich großspurig allerhand verkündet wurde. Man denke nur an das Cluetrain Manifest mit seinen 95 Thesen, ganz wie Martin Luther auf der Wartburg, mit dem Markt als Gott. Noch großspuriger können eigentlich nur Journalisten sein, wie es später das Internet-Manifest zeigte, als man noch filterblasenfrei Unsinn verzapfte: "Wer Links nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus." Soso.

*** Am kommenden Montag startet das 1. deutsche Schirrmacher-Symposium mit den englischen Motto "re:claim autonomy", ein Versuch, die "Selbstermächtigung in der digitalen Weltordnung" festzuzurren. Auf dieser Veranstaltung gibt der nun für Deutschland auftretende Martin Schulz sein Debüt als Netzdenker und Erstunterzeichner: Im Vorfeld wurde bereits die Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union von Sascha Lobo & Co ausgerufen und in den großen Blättern dieser kleinen Republik als überdimensionierte Tablet-Edition abgedruckt, in dieser Form ganz klar ein Schaustück für die deutsche Öffentlichkeit. 14 Monate sollen Dichter und Denker auf ihren Laptops an dieser Bankrotterklärung des Cyberspace gearbeitet haben, die bald "dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments vorgestellt" werden soll. Ja, klingt hart, geht aber nicht anders, denn die Charta enthält ein paar gute Ideen, aber (neben dem einfach nur dämlichen "Recht auf Nicht-Wissen") eben auch den fatalen Artikel 5, Absatz 2 und Absatz 4:
"(2) Digitale Hetze, Mobbing sowie Aktivitäten, die geeignet sind, den Ruf oder die Unversehrtheit einer Person ernsthaft zu gefährden, sind zu verhindern.
/.../
(4) Staatliche Stellen und die Betreiber von Informations- und Kommunikationsdiensten sind verpflichtet, für die Einhaltung von Abs. 1, 2 und 3 zu sorgen."

Formulierungen wie "sind zu verhindern" ("shall be prevented", "deben evitarse", gar "sont proscrits" im Französischen) verniedlichen das zentrale Problem, dass eine solche Verhinderung nicht möglich ist, wenn das Recht auf freie Information und Kommunikation (Artikel 2) ernst genommen wird. Wer verhindern will, braucht eine Infrastruktur, die nach Hetze, Mobbing und rufschädigenden Aktivitäten fahndet. So kommt es, dass wir passend zur Großstörungswoche bei der Telekom eine Großstörung bei den Netzdenkern diagnostizieren können.

*** Die erschütternde Ahnungslosigkeit und Abgehobenheit der Verfasser ist an der "Beta"-Reaktion auf die Kritik ablesbar:
"Der Begriff „verhindern“ übrigens, über den in netznahen Teilen der Öffentlichkeit besonders heftig gestritten wird, ist dort völlig anders aufgenommen worden, als er in der Gruppe diskutiert wurde, wo er gesellschaftlich betrachtet wurde. Zum Beispiel als Prävention von Hassrede und Hetze durch Aufklärung. Niemand in der Gruppe hat auch nur eine Sekunde lang die in dem Wort gelesene „Vorzensur“ im Sinn gehabt, das wäre für viele auch ein sofortiges Abbruchkriterium gewesen."
Da wird also der Begriff "gesellschaftlich" betrachtet, obwohl er eine juristische Wirkung entfaltet, wenn "staatliche Stellen und Betreiber von Informationsdiensten" (wie heise online) verpflichtet werden sollen, Hetze, Mobbing & Co zu unterbinden. Das ist mehr als nur naiv. Ansonsten gilt umstandslos, was Algorithm Watch zur Digitalcharta schreibt (mal abgesehen zu den Ausführungen über Big Data und Algorithmen): Es gibt keine digitalen Grundrechte. Und niemand will eine "digitale Welt" gestalten. Wir haben nur eine, analog und ressourcenendlich.

*** Jürgen Habermas, der Philosoph, gehört zu den Unterstützern der digitalen Charta, aber auch Heribert Prantl, der wortmächtige Journalist, der in der aktuellen Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung hemmungslos von der wunderbaren Klarheit und Sprache der Bayerischen Verfassung schwärmt, die am 1. Dezember 1946 verabschiedet wurde. Für Prantl ist sie eine der schönsten und buntesten Verfassungen der Welt, die sich liest, als seien Fidel Castro und Papst Franziskus dabei gewesen, als sie verfasst wurde. "Sie ist wie ein Bauern-, Obst- und Gemüsegarten: Sie blüht und sie duftet, und nahrhaft ist sie auch." Wenn einer wie Prantl eine Charta unterstützt, die davon schwafelt, dass "jeder Mensch ein Recht auf digitalen Neuanfang" (Artikel 18) hat, ist vielleicht die traurigste Erkenntnis: Nunja, jeder Mensch hat das Recht, sich zu irren.

Was wird.

Im Land der Dichter, Denker und Charta-Verfasser sind nun die Ermittlungskünste der IT-Spezialisten gefragt: Sie sollen untersuchen, woher die NSA-Leaks von Wikleaks stammen, mit besonderer Beachtung von "Bundestag Vorabunterrichtung RfAB 23.6.2014-1.pdf". War ein Mitglied des Auswärtigen Ausschusses oder des Europa-Ausschusses der Wikleaks-Informant oder wurden die doch recht alten Datenbestände beim Hackerangriff auf den Bundestag von der Russengang namens Sofacy alias APT 28 alias Fancy Bear entführt und an Wikileaks übergeben? Metadaten mögen zwar nicht töten können – das machen immer noch die via Ramstein gelenkten Drohnen mit ihren Raketen –, aber sie könnten immerhin eine Karriere zerstören. q.e.d., sofern das noch im deutschen Sprachunterricht den Abiturienten mit auf dem Weg ins BKA gegeben wird. In der Zwischenzeit wartet die Welt, ob Wikileaks auch die Secret Santa Files veröffentlicht, ohne Rücksicht auf die Kinder. Für die Erwachsenen gibt es ja auch neue Weihnachtsgeschichten aus Bethlehem, da auf der Krim.

Wer sang das alte Entsagungslied?
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel. (jk)