Der "Missing Link" am Sonntag: Ja, wir leben im Neuland!

Vor rund vier Jahren erntete Bundeskanzlerin Angela Merkel Hohn und Spott für ihren Spruch: "Das Internet ist für uns alle Neuland". Doch sie hat Recht, findet c't-Redakteur Christof Windeck.

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#neuland

(Bild: dpa, Stefan Puchner/Archiv)

Lesezeit: 3 Min.
"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Was haben sie alle gelacht, die selbst empfundenen Digital Natives, Internet-Versteher und Smartphone-Junkies: Deren Meinung nach hat sich Angela Merkel seinerzeit mit ihrer Bezeichnung "Neuland" für "das Internet" als kompletter Noob disqualifiziert. Aber sie hatte recht.

Wer versteht schon "das Internet" – und was ist das überhaupt genau? Seit 2013, als Merkel ihre scheinbar unbedarfte Bemerkung vom Stapel ließ, hat sich vieles im Web schon wieder grundsätzlich gewandelt. Sie sprach den berühmten Satz übrigens während eines Deutschlandbesuchs von Barack Obama. Der galt damals als erster Internet-Versteher im Weißen Haus. Trotzdem scheiterte seine Partei bei den vergangenen Präsidentenwahlen kläglich - unter anderem wohl auch deshalb, weil sich das Trump-Team im Neuland noch besser auskannte.

Überhaupt, die Politik und das Internet: Die Hoffnung, dass der freie, direkte Informationsfluss zu gerechteren Gesellschaften führt, ist derzeit getrübt wie kaum jemals zuvor. Heute dominieren ausgerechnet die reaktionärsten Ansichten das modernste Medium, es dient als Werkzeug für Desinformation und Ausgrenzung. Wie konnte das passieren? Wieso hat da niemand aufgepasst?

Ein Beitrag von Christof Windeck

Christof Windeck (ciw) schreibt für c't und heise online über PC- und Server-Hardware. Er kam nach einem Studium der Elektrotechnik und sieben Jahren in einem kleinen Industriebetrieb 1999 zur c't und ist heute leitender Redakteur des Ressorts PC-Hardware.

Mir scheint, dass auch die Mehrheit der vermeintlichen #neuland-Experten das nicht kommen sah. Ist das schöne Internet jetzt kaputt? Oder nicht einfach bloß neu(land)?

Auch die Wirtschaft lernt schmerzlich, online ständig Neuland erobern zu müssen: Geschäftsmodelle verändern sich rasend schnell, derzeit profitieren vor allem Giganten. Die hebeln mit ihrer gewaltigen Online-Macht wie nebenbei demokratisch verankerte Spielregeln aus. Fairen Wettbewerb, Steuern, Verbraucher- und Datenschutz sehen sie anscheinend bloß als lästige "Herausforderungen", die es zu überwinden gilt.

Das setzt Justiz, Politik und jeden einzelnen Bürger unter gewaltigen Druck. Sie müssen Veränderungen begreifen und immer wieder neue Regeln lernen, um digitaler Entrechtung zu entgehen. Doch öffentliche Willensbildung braucht schlichtweg Zeit, um widerstrebende Interessen fair abzuwägen. Demokratische Strukturen, Streitkultur und Teilhabe lassen sich nicht mal eben so durch Mausklicks ersetzen – oder was war nochmal Liquid Democracy?

Auch die Technik an sich überfordert viele, und nicht bloß Laien: Neuartige Sicherheitsrisiken schießen schneller aus dem Neuland als Pilze aus dem Boden. Das Internet of (shitty) Things ist derzeit eher Fiasko als Versprechen, weil Geräte-Entwickler das Neuland nicht kennen. Nicht einmal Hersteller von Netzwerkgeräten verstehen das Netz wirklich. Andere gehen mit stümperhaften Produkten oder gar Fälschungen auf Dummenfang in Neuland.

Merkel auf der CeBIT 2015

(Bild: dpa, Ole Spata)

Verstehen Sie mich nicht falsch: Selbstverständlich fährt der Zug mit Volldampf ins Neuland - und das ist auch gut so. Aber der Witz am neuen Medium ist nun einmal, dass es sich ständig verändert. Im Neuland wird noch auf absehbare Zeit immer wieder unbekanntes Territorium erobert. Für meinen Geschmack krallt sich bislang viel zu oft der Stärkere das größte Stück vom Kuchen: Ich, ich, ich!!!111einself

Und nach gut 18 Jahren Arbeit in Alt- und Neuland gleichzeitig zwingt mich letzteres immer noch ständig zu Veränderungen. Merkels Bemerkung fand ich deshalb schlichtweg weitsichtig. (ciw)