Von Daten und Nebenwirkungen

Gesundheitsdaten sind künftig die Währung im Gesundheitswesen. Wer sie hat, entscheidet über Therapie und Bezahlung.

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Von
  • Susanne Donner

Es ist Samstag, meine Tochter, nicht einmal ein Jahr alt, hat hohes Fieber. Sie hat sich erbrochen. In die Notaufnahme? Tausende Betroffene stehen Tag für Tag vor einer ähnlichen Frage. Dieses Mal rufe ich einen neuen telemedizinischen Dienst in Deutschland an, die TeleClinic. Angeblich ermöglicht der Service, zwischen 6 und 23 Uhr binnen 30 Minuten über Videotelefonie mit einem Arzt zu sprechen – auch am Wochenende. Für die ersten dreißig Tage ist das gratis. Danach zahlen alle Patienten, außer die Mitglieder der Barmenia sowie der Brandenburgischen BKK und der BKK Werra-Meissner, 30 Euro je Arztgespräch.

TR 1/2017

(Bild: 

Technology Review 1/17

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Dieser Artikel stammt aus dem Januar-Heft von Technology Review. Weitere Themen der Ausgabe:

Eine Assistentin nimmt die Daten auf. Und tatsächlich, nach knapp zehn Minuten ruft mich ein Arzt zurück. Seit wann hat sie Fieber? Seit zwei Tagen. Wie hoch? Jetzt 39,5. Trinkt sie ausreichend? Weniger als normal. Hat sie andere Beschwerden, etwa Durchfall? Nein. Der Arzt rät zu fiebersenkenden Zäpfen. Solange unsere Tochter ausreichend trinkt, brauchen wir nicht unbedingt in eine Notaufnahme zu fahren, wo das Kind stationär aufgenommen würde und Infusionen bekäme.

Überall auf der Welt entstehen mehr und mehr Dienste wie die TeleClinic. Bis 2018 werde ihre Zahl auf sieben Millionen anwachsen, prognostiziert das Marktforschungsunternehmen IHS. Bis 2020 soll der gesamte Sektor der digitalen Gesundheitswirtschaft gar um 21 Prozent an Umsatz zulegen. Auch die Digitalkonzerne wie Google, Apple und SAP bereiten sich auf den Boom vor. Apple ist seit drei Jahren mit der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA in Kontakt.

Denn das Unternehmen möchte über seine Apple Watch hinaus tragbare Geräte zum Überwachen der Gesundheit entwickeln und arbeitet unter anderem an einer App zur Diagnose der Parkinson-Erkrankung. Google hat 2016 über sein Tochterunternehmen DeepMind eine Kooperation mit dem staatlichen britischen Gesundheitsdienstleister NHS geschlossen und erhält fünf Jahre lang Zugang zu Millionen Daten über Krankenhausaufenthalte, um daraus App-Anwendungen zu entwickeln.

"Ich bin überzeugt, dass ein Durchbruch in der Digitalisierung kurz bevorsteht", sagt Hans Lehrach, Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin und Initiator des Future-of-Health-Manifests. Auch große Pharmaunternehmen wie Novartis, Boehringer Ingelheim und Roche brachten sich in den vergangenen zwei Jahren in Position, indem sie mit Start-ups Kooperationen eingingen oder diese gar aufkauften. Wer die Gesundheitsdaten hat, entscheidet künftig über Therapien und deren Bezahlungen.

Auf die Versicherungen kommt damit eine völlig neue Rolle zu. Existiert heute noch eine unverbrüchliche Kommunikationskette vom Patienten zum Arzt und von dort zum Versicherer, können Wearables und Smartphones künftig Gesundheitsdaten direkt an die Versicherung, aber auch an die Hersteller funken. Diese Daten sind die neue Währung im Gesundheitswesen. Krankenkassen könnten ihre Erstattung der Behandlungskosten dann davon abhängig machen, ob der Versicherte sich an die Arztempfehlungen gehalten oder die Tabletten eigenmächtig abgesetzt hat, deutet Evangelos Avramakis von Helsana, einer Schweizer Kranken- und Unfallversicherung, an. Das Gesundheitsdatennetz wird dichter, ermöglicht neue Einblicke und strengere Kontrollen.

Welche Rückschlüsse sich beispielsweise aus Daten von Wearables ziehen lassen, zeigte Mitte Dezember eine Studie der Stanford University. 60 Testpersonen hatten dem Team um den Genetiker Michael Snyder Daten aus Körpersensoren zur Verfügung gestellt. So kamen die Forscher an Werte wie Körpergewicht, Herzfrequenz, Hauttemperatur, Sauerstoffsättigung im Blut oder körperliche Aktivität. Die Wissenschaftler glichen die Werte zudem mit Laboruntersuchungen ab. Bei mehreren Probanden sagte die Auswertung korrekt eine Entzündung voraus, ohne dass die Teilnehmer selbst schon davon wussten. Bei anderen ergab die Analyse Hinweise auf einen beginnenden Diabetes.

"Der Umstand, aus bloßen Sensordaten Infektionen vorauszusagen, bevor sie zu spüren sind, ist sehr provokant", kommentiert Eric Topol, Genetiker am Scripps Research Institute. Die Probanden trugen zwar bis zu sieben Körpersensoren, eine realitätsfremde Menge. Dennoch zeigt die Studie, wohin sich das Gesundheitswesen entwickeln dürfte.

Mit der Vernetzung verändert sich auch die Forschung. In den USA beispielsweise betreut die American Society of Cancer and Oncology mit CancerLinQ eine der größten digitalen Datensammlungen zu Krebserkrankungen. Sie umfasst mittlerweile über eine Million Einträge. Die Angaben werden automatisiert aus den Praxen übermittelt. Kaum eine Studie zählt so viele Teilnehmer. "Es gibt darin rund 400 Männer mit Brustkrebs, eine extrem seltene Erkrankung. Die größte Studie dazu bekam mit Mühe und Not 300 Patienten zusammen. Der Mehrwert liegt darin, dass Forscher also ganz neue Einsichten gewinnen können", sagt Dominik Bertram vom Softwareunternehmen SAP, das die Datenbank entwickelt hat.

Nicht jedem passt indes die Entwicklung. Kliniken oder Mediziner fürchten, dass die neuen Einblicke Schwächen offenlegen. Die Pharmaindustrie ahnt, dass die neue Vermessung rascher offenlegen wird, welche Medikamente wirklich wirken. Nicht zu Unrecht: Bereits heute fordern Zulassungsbehörden immer häufiger sogenannte Phase-4-Studien von Wirkstoffen. Mit ihnen lässt sich nach der Marktzulassung überprüfen, wie eine Therapie tatsächlich anschlägt. Denn es mag zwar sein, dass eine Arznei am Patientenkollektiv einer klinischen Studie – jung, gezielt rekrutiert und hochmotiviert – gut wirkt, aber die Wirkung in der medizinischen Realität verpufft.

Für die zehn erfolgreichsten Medikamente aus den USA gilt laut einem Beitrag von Nicholas Schork im Fachjournal "Nature": Auf einen erfolgreich behandelten Patienten kommen bis zu 24, denen dieser Wirkstoff nicht hilft. Etwa 200.000 Patienten sterben zudem jedes Jahr in der EU an Nebenwirkungen. "Ein digitales Gesundheitswesen wird mehr Kranken helfen und die Zahl der Arzneiopfer mindestens halbieren", glaubt Lehrach.

Vor allem aber fürchten die Patienten einen Missbrauch ihrer sensiblen Gesundheitsinformationen. Sowohl Lehrach als auch Bertram sind daher überzeugt, dass die Daten immer dem Patienten gehören müssen. Er muss entscheiden, was damit geschieht. Er könnte seine digitale Krankenakte etwa Forschern zur Verfügung stellen, die nach neuen Angriffspunkten für Therapien suchen. Oder er hinterlegt sie in der Notaufnahme einer Klinik, damit der Arzt dort Zugriff auf die komplette Krankenhistorie hat. Erwarten Patienten jedoch keinen Nutzen von ihrer digitalen Vermessung, werden sie ihre Daten unter Verschluss halten. In der nächsten Zeit wird es daher vor allem darum gehen, wie dieser Nutzen für den Patienten aussehen kann.

(bsc)